Unterm Strich

Boccaccios „Dekameron“ fußt bekanntlich auf der Flucht einer Gruppe überlebenswilliger Menschen aus der Peststadt Florenz. Nicht von der Pest, wohl aber von einer gewissen geistigen Ödnis darf in der Gegenwart wohl gesprochen werden, und vor dieser ansteckenden Krankheit der Geistes zu fliehen, war immerhin ein Motiv jener kleinen Gesellschaft von Männern und Frauen, die sich am letzten Wochenende zu einer Montaigne-Tagung in Berlin einfand, um ausdauernd über einen Herrn zu reden, von dem niemals genug Rühmens ist: Michel de Montaigne. Wer von Montaigne spricht, ist mit ihm befreundet: Von der philosophischen Scholastik hat er sich schreibend zu weit entfernt, als daß sie ihn zur Feindschaft ernst genug nähme (obwohl sie allen Grund hätte, kennte sie seine Essays), und wer ihn dennoch oder deshalb liest, der ist auf gelassene Weise bezaubert: Da diesem Franzosen des 16. Jahrhunderts nichts Fanatisches eignet, ruft er auch nichts Entsprechendes hervor, sondern nur jene zärtliche Höflichkeit des intellektuellen Umgangs, die in der Gegenwart nur so selten wirklich wird und akademisch-unerfreulicheÜberbietungsdiskurse erübrigen. Dennoch widersprechen sich die Anhänger seines Denkens zuweilen, denn Widersprüche gibt es genug: Es ist wahr, daß ich mir hin und wieder widerspreche, gibt Montaigne selber zu, der Wahrheit aber widerspreche ich nie. Die Wahrheit über Montaigne ist dementsprechend...

...nicht zu finden, aber wer sich auf den Doppelsinn des s'essayer einläßt, sich also mit dem Versuch immerhin in Versuchung führt, kann von jener milden Sucht der Reflexion befallen werden, die Montaigne selbst empfahl. Womit die Schwierigkeiten schon beginnen: Wilhelm Schmid (Berlin) widmete seinen Vortrag über des Philosophen Verhältnis zu den Lüsten und der Sucht danach der Widerlegung des bekannten Mißverständnisses, es handle sich bei Montaigne um einen Stoiker. Jener Mann, der sich 38jährig in seinen Turm zurückzog, um hinfort Besinnlichkeit zu üben, hatte nämlich weder die Tötung seiner Leidenschaften im Sinn noch deren Temperierung ins Laue hinein: gerade die Enthaltsamkeit hielt er für ein Laster. Denn die Annullierung der Begierden gibt ja in ihrer feindseligen Entschlossenheit Auskunft über ihre Ohnmacht, was die menschliche Grundausstattung betrifft: Und es sollte doch dem Philosophen darum gehen [und Ihnen darum, das Blatt jetzt zu drehen],...

...ein aufgeklärter Souverän seiner selbst zu sein. Diese Souveränität kann nur erlangen, wer der kleinen Klugheit vor dem großen Dualismus Körper–Geist den Vorzug gibt, wer also weder seinen Begierden anheim fällt, noch sie vernichten will. Montaigne will nicht einen anderen aus sich machen, sondern sich selbst vollenden: Und dazu gehört der Respekt vor seinen kreatürlichen Ressourcen. Nach ihm steckt die Lust noch bei den Kindern in den Füßen, bei den Erwachsenen ist sie in die Mitte des Körpers gewandert und dem Greis endgültig und allein zu Kopfe gestiegen: Bis dahin hat er noch Zeit, den Gebrauch der Lüste zu üben, und er will diese Zeit nicht gewaltsam verkürzen. Denn wie er die Gewalt, die sich als Grausamkeit nach außen wendet, als einzige menschliche Regung wirklich verurteilt, so ist das größte Gewaltverbrechen gegen sich selbst für ihn die Selbstlüge: Es reicht, sich das Gesicht zu pudern, müssen wir uns auch noch die Seele pudern? Eine solche Lüge kostet Ausdauer und zeitigt Folgen; noch vor der Erfindung der Neurosentheorie hat Montaigne darauf hingewiesen, daß der Kampf gegen sich selbst ein verwüstetes Schlachtfeld hinterläßt. Erlaubt ist aber das Scharmützel: der kleine, kalkulierte Angriff auf die Wollust, die Disziplinierung der Begierden, um sie zu kultivieren – und sich damit um so mehr Lust zu bereiten. In deren Dienst kann auch die Sublimierung stehen, das Sprechen über die Begierde und deren Verdoppelung in der Phantasie – ein ketzerischer Gedanke in unserer heutigen Kultur, die dem Sexus einen Thron errichtet, auf dem die Imagination nicht Platz nehmen darf: Der Umweg beispielsweise übersTelefon ist kein gesellschaftlich geschätzter Triebausdruck. Auch für die Begierdenpolitik gilt: anything goes, was gefällt und die Selbsterkenntnis fördert, statt sie zu verschütten. Wer mit seinem Körper befreundet ist, geht höflich mit ihm um, und dazu mag gehören, ihm hin und wieder den Vortritt zu lassen. Ist der Körper krank, verschafft er sich diesen Vortritt ohnehin: Bei diesem kreatürlichen Ernstfall steht auch die partnerschaftliche Gelassenheit der kleinen Klugheit auf der Probebühne. Montaigne litt an Nierensteinen, ging auf Badereisen (über das Wandern des Ich, das bei sich bleibt, hielt Rüdiger Zill aus Berlin den Eingangsvortrag der Tagung), kurte nicht ohne Exzesse – um schließlich seine Krankheit an- und ernstzunehmen: Zu ertragen war sie nur, wenn sie kein Zufall war, sondern eine Formulierung seiner selbst, die als wahr zu lesen Roman Pohl (Köln) empfahl: Montaigne wertete seine Krankheit als Medizin, denn sie verführte zu speziellen Tugenden. Sein Verhältnis zur Krankheit war dialogisch: Er sprach mit ihr, und er hörte ihr zu. In einer Mischung aus magischen Überzeugungen und philosophischem Respekt betrachtete Montaigne seine Nierensteine als einen gleichsam symmetrischen [jetzt wieder symmetrisch drehen]...

...Ausdruck seiner Lebensführung. Er mißtraute den Ärzten aus einem sehr modernen Grund: Denn ihr Wissen beruhte schon im sich medizinisch organisierenden sechzehnten Jahrhundert auf Verallgemeinerungen, und eben diese helfen dem Individuum nicht weiter. Und zudem: Was halfen die Ärzte? Sie verabreichten schlecht schmeckende Medizin, sie zäunten die Lebensführung auf verwinkelte Pfade ein, sie verdunkelten die Selbsterkenntnis durch ihre bornierten Hypostasierungen, und schließlich verdoppelten sie das Elend: Von der Kolik geplagt sein und keine Austern essen dürfen: das sind zwei Übel statt einem. Heute würde, so die Vermutung, Montaigne seine Steine wohl beseitigen lassen, sich aber diäthetischen Empfehlungen nicht beugen. Und vielleicht würde er einen Homöopathen aufsuchen, weil der ihm darin entgegenkäme, nicht sein Leiden, sondern ihn selbst zu behandeln: Um jene Störung zu beseitigen, deren Ausdruck die Erkrankung ist, muß man sich an den ursprünglich Sprechenden wenden.

Und wenn man daran stirbt? Doch nach Montaigne stirbt man nicht an der Krankheit, sondern am Leben. Sein Essay Philosophieren heißt sterben lernen zeigt, so Pohl, „den Epikuräer in seiner größten Charakterrolle“: Noch aus dem Tod, dem letzten Traum des oft träumenden Philosophen, ist möglichst Genuß zu ziehen. Dem steht, denn auch hier bleiben Widersprüche nicht aus, die Trauer vor und entgegen:...

...Das Alter schränkt die Möglichkeiten ein, es zwingt zur abdankenden Einsicht: Aber ja doch, es ist vorbei.

Dem müssen wir uns nun anschließen. Die Tagung – zu der auch Gerburg Treusch-Dieter mit einem Vortrag über Die Seele im 16. Jahrhundert beitrug, Sabine Vogel (Berlin) mit einem historischen Abriß zum Leseverhalten, Monika Kopuczynski (Berlin) mit einer Vorstellung Mlle. de Gournays, der ersten Herausgeberin M.s, Christa Dericum mit einer Rede über Die uneingelösten Forderungen des Montaigne und schließlich Steffen Dietzsch mit einem Vortrag über Montaigne und das Lachen – ist vergangen. Was bleibt? Eine Ausschreibung: Die Montaigne-Gesellschaft prämiert einen Essay (nicht unter 15 Seiten) zu dem Thema: “Wieviel Nornen braucht der Mensch?“. Einsendungen bis zum 13.9. an: Montaigne-Gesellschaft, c/o taz. Der/die Preisträger/in liest auf Wunsch den Essay auf der 2. Tagung der Gesellschaft, Pfingsten 1995 in der Dordogne.