„Sie sind entschlossen, uns hinzurichten“

Kurdische Abgeordnete weigern sich, das türkische Parlament zu verlassen / Wegen „Vaterlandsverrats“ droht ihnen nach Aufhebung ihrer Immunität die Todesstrafe  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Kurdische Abgeordnete der „Demokratischen Partei“ (DEP), deren Immunität am Mittwoch vom türkischen Parlament aufgehoben wurde, harren aus Protest im Parlamentsgebäude aus. Zuvor waren zwei Abgeordnete der Partei unmittelbar nach der Sitzung, in deren Verlauf ihre Immunität aufgehoben wurde, vor dem Parlamentsgebäude festgenommen worden. Vor versammelter Presse und Fernsehkameras drängten Zivilpolizisten der „Abteilung für Terrorismusbekämpfung“ die Abgeordneten in ein Fahrzeug und fuhren mit ihnen davon.

Die Festnahme erfolgte auf Anweisung des Oberstaatsanwaltes des Staatssicherheitsgerichtes Ankara, Nusret Demiral. Wegen „Vaterlandsverrats“ fordert er die Todesstrafe gegen die Abgeordneten zu verhängen. Die Abgeordneten der DEP hatten sich stets gegen den staatlichen Terror und die Repression in den kurdischen Regionen gewandt. Der türkische Generalstabschef Dogan Güres und Ministerpräsidentin Tansu Ciller beschuldigten sie, Sprecher der kurdischen Guerilla PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) zu sein. Am Mittwoch war die Immunität von sechs kurdischen Abgeordneten aufgehoben worden.

Für die Aufhebung der Immunität stimmte eine breite Mehrheit des Parlamentes. Allein die wenigen Sozialdemokraten, die zur Abstimmung erschienen waren, votierten dagegen. Die Sitzung im Parlament glich einem Verfahren vor einem Standgericht. Der unabhängige Abgeordnete Mahmut Alinak, der früher Mitglied der „Demokratischen Partei“ war und dessen Immunität ebenfalls aufgehoben wurde, konnte nicht zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Ihm wurde kurzerhand das Mikrophon abgestellt. „Falls ein General es will, stellt ihr hier im Gebäude auch einen Galgen auf“, sagte Alinak. In Windeseile wurde zur Abstimmung geschritten. Der Abgeordnete Sirri Sakik kommentierte: „Sie sind fest entschlossen, uns hinzurichten. Sie denken offensichtlich, daß sich die kurdische Frage löst, wenn wir am Galgen hängen. Doch die Geschichte wird zeigen, daß wir recht hatten.“

Den Abgeordneten wird ihre politische Auffassung zur Last gelegt. In der Anklageschrift des Staatssicherheitsgerichtes werden unter anderem Redebeiträge im Parlament und Petitionen an die Vereinten Nationen als Beweis für den „Vaterlandsverrat“ angeführt. Paragraph 125 des türkischen Strafgesetzbuches behandelt die Delikte „Vaterlandsverrat“ und „Straftaten gegen die Souveränität des Staates“ und sieht dafür die Todesstrafe vor. Die Anklageschriften des Staatssicherheitsgerichts, aufgrund deren die Immunität aufgehoben wurde, ist vollkommener Ausdruck willkürlicher politischer Justiz. Konkrete Straftatbestände werden nicht genannt. Statt dessen heißt es: „Die DEP- Abgeordneten unterhalten Beziehungen zur bewaffneten Bande PKK“, sie versuchten Öffentlichkeit für die PKK herzustellen und auf internationale Organisationen einzuwirken.

Der Abgeordneten Leyla Zana soll aus ihrer Vereidigung vor dem Parlament ein Strick gedreht werden. Während der Zeremonie hatte sie auf kurdisch gerufen: „Es lebe die Brüderlichkeit des türkischen und kurdischen Volkes!“ In der Anklageschrift wird die Aktion als Beleg dafür gewertet, daß die Abgeordnete von der Terrororganisation PKK ins Parlament gehievt wurde.

Schon seit Jahren hatte die Staatsanwaltschaft des Staatssicherheitsgerichtes den Antrag an das Parlament gestellt, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben. Doch aufgrund befürchteter Proteste und Reaktionen aus dem Ausland wurden die Anträge auf die lange Bank geschoben. Das gerichtliche und polizeiliche Vorgehen selbst gegen gewählte Abgeordnete ist Ausdruck davon, daß die Regierung Ciller vollends auf die militärische „Lösung“ der Kurdenfrage setzt, wie sie der Generalstab propagiert.