„Wie die Kühe am elektrischen Draht“

■ Das Bedürfnis nach Selbstschutz wächst: 40.000 beantragten Waffenschein / Taxifahrer, Einzelhausbesitzer, Laubenpieper und Frauen üben sich im Schießen

„Alle Mann zum Schießen, ja?“ Eigentlich ist es keine Frage, mehr eine Feststellung. Der Pförtner beim Eisenbahner-Sportverein (ESV) am S-Betriebsbahnhof Schöneweide im Ostteil Berlins zeigt den grüppchenweise eintreffenden Menschen den Weg zum Schießen. Hans Truckenbrodt und Jürgen Greiner-Mai vom ESV Lok Schöneweide warten schon.

Greiner-Mai freut sich: „So viel waren noch nie da.“ Mitten in den Satz knallt ein ohrenbetäubender Schuß. Eine Frau im mittleren Alter hat ihn abgefeuert, mit einer Gas-Pistole. Etwa 35 Gäste reihen sich ein, können es kaum abwarten, endlich probezuböllern. „Umgang mit Schreckschußwaffen zur Selbstverteidigung“, heißt es in der Einladung in den Schießkeller nach Treptow. Auch der Landessportbund Berlin (LSB) schloß sich dem offensichtlich wachsenden Bedürfnis von Bürgern nach Selbstschutz an und hat den Termin in seinem Freizeitsportkalender 1994 aufgenommen.

Truckenbrodt nennt nach einer Aufklärung über die Rechtslage bei Beschaffung und Besitz von Waffen die neuesten Zahlen: „40.000 Anträge auf Waffen-Besitz liegen den Berliner Behörden zur Zeit vor. Höchstens 4.000 bis 5.000 dürften genehmigt werden.“ Die von ihm vorgeführten Schreckschußwaffen sind erwerbsfrei, „in Aussehen und Knall nicht zu unterscheiden von scharfen Waffen“.

Der Sportschütze „aus Spaß an der Freude“ zu den Motiven des Vereins: „Wir sagen jedem, er soll sich keine Waffe kaufen. Und wenn einer eine solche Waffe besitzt, dann wollen wir verhindern, daß er damit Unsinn anstellt.“ Schließlich könne man nach Ansicht von Truckenbrodt „in der Demokratie und in der Freiheit keinem verbieten, so ein Ding zu haben“.

Die steigende Waffennachfrage müsse man vor dem Hintergrund sehen, daß die „kriminellen Kräfte“ in der Stadt stärker werden. 22 Mordopfer verzeichne die Bilanz in den ersten zwei Monaten des Jahres in Berlin. Zu Truckenbrodts Schützlingen „gehören viele Taxifahrer, Einzelhaus-Besitzer, Laubenpieper mit Furcht vor Einbrüchen in ihre Datsche, auch immer mehr Frauen mit Angst vor Überfällen und immer mehr Jugendliche“.

Besonders die Frauen unter den Teilnehmern interessieren sich für die anderen Abwehr-Waffen, die Truckenbrodt noch vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat. Ein bißchen Tränengas aus einem kleinen Fläschchen sprüht er persönlich an die Blümchen-Gardine. Sekunden später niest die halbe Gesellschaft, andere reiben sich das Wasser aus den Augen.

Truckenbrodt beschreibt noch die gewaltige Phonstärke eines Schrill-Signals, das Angreifer mit 120 Dezibel schocken soll und stellt einen Elektroschocker vor, „mit 65.000 bis 200.000 Volt“. Ein Teilnehmer erzählt, wie ihn selbst einmal aus Versehen ein Elektroschlag an einem Zaun „geschüttelt“ hat. „Ja, man spürt ordentlich was, wie Kühe auf der Weide am elektrischen Draht.“

Der Katalog eines Händlers am Alexanderplatz geht reihum, Waffen zuhauf. Ein Teilnehmer fragt, ob der Elektrostopper auch „durch die Lederjacke wirkt“. Die Antwort, daß direkter Hautkontakt nötig ist, befriedigt den Fragesteller nicht so recht: „Dann muß ich dem Gegner also vorher sagen, bitte ausziehen.“ Der Einsatz von Messern sei auch fraglich. „Im Konfliktfall nicht zu empfehlen“, sagt Truckenbrodt, denn Messer seien „unästhetisch“. Einer seiner zahlreichen Zuhörer wirft ungerührt die Bemerkung dazwischen: „Schwer rauszuziehen.“ Hans-Rüdiger Bein/dpa