Full Hair Again

■ Hundert Jahre Zweithaarsysteme - "Brehmer Top" hilft mit Haarprothetik bei Glatzen, Lücken, Löchern: "Modische Dinger sind unsere Sache nicht!"

Wenn denn die Leute erst mal drin sind, in dem samtig-muffelnden Salon – dann ist die große Hürde genommen. Dann haben die meisten schon drei, vier Tage unruhiges Ums-Haus-Schleichen hinter sich, erzählt der Patron mit dem schlohweißen Haupte. „Und dann meinen die, sie sind beim lieben Gott.“

Der wohnt gleich um die Ecke. In Bremens Parkstraße residiert in herrschaftlichem Hause die Firma Brehmer Top. Zweithaarsysteme sind ihr Geschäft, seit über hundert Jahren. Das kleine Himmelreich des Top-Chefs Holger Schwarze, das ist ein biederer Friseurladen Marke Siebziger, mit Fläschchen, Dosen, Kämmen – und Haaren. Echten. Unzählige blasse Köpfe reihen sich an den Wänden und in den Vitrinen, gekrönt mit des Meisters Kunst: Haarteilen aller Form und Art, Toupets, Perücken.

„Die modischen Dinger sind aber unsere Sache nicht“, betont der Chef. „Wir machen hauptsächlich Haarprothetik.“ Vor 25 Jahren noch, ja, da hatten die Damen noch jede zwei, drei Ersatzhäupter zu Hause. Da hing bei Brehmer Top die ganze Decke voll und man residierte gar auf zwei Villen verteilt. Dann „explodierte das, daß sich die Männer die kahlen Flächen bedeckten“. Und seither füllen sie zu 80 Prozent den Laden. Es kommen: viele, die ihr Haar durch Krankheiten oder Unfälle verloren haben, Leute von der Reeperbahn und „hochkarätige Geschäftsleute aus Düsseldorf“ (Schwarze). Sie wünschen sich: über das Ersatz-Kopfhaar hinaus Koteletten, Augenbrauen, Schnauzer, Brusttoupets oder für den Nachtclub eine rote Perücke und ein passendes Geschlechtshaarteil.

Holger Schwarze empfängt die Kundschaft auf roten Plüschsesseln und kümmert sich selbst um die Einstiegsberatung. Die meisten wollen ja doch wieder so aussehen wie vorher und haben meist ihre Beleg- und Orientierungsfotos schon dabei. Auch die Festlegung auf Farbe, Qualität und Quantität („Wenn einer zehn Haare hat, kann ich ihm ja nicht zehntausend auf einen Fleck machen“) ist ja automatisch durch die Resthaarbestände gegeben. Ansonsten sind der Haartraumskala aber kaum Grenzen gesetzt. Schwarze bietet da etwa Safari, das besonders strapazierfähige Modell an. Der zweisprachige Prospekt Full Hair Again preist „Your hairpiece ist weather-proof and long-lasting“.

Möglich macht's das echte Haar, die Spezialität des Hauses. Fein säuberlich geflochtene Zöpfe hängen in der Ecke. Brehmer Top führt das europäische, das chinesische, das indonesische, das indische und den steifen, hellen Strang des amerikanischen Bauchbüffels. „Der wird vor allem als Beimischung für Schaufensterdekos benutzt." Gekauft wird bei auswärtigen Lieferanten, und die wiederum besorgen sich die Haarpracht „in Naturländern, in Bergdörfern“. Polen oder Sizilien deutet Schwarze an, aber eigentlich ist das ja Geschäftsgeheimnis, „denn die Konkurrenz will uns an unsere Haarqualität“.

Die wird in den hauseigenen Kellerwerkstätten gehegt und gepflegt. Ein Großteil der 48 MitarbeiterInnen ist dort zu Gange. Die Haarzieherinnen zum Beispiel, die das selten gewordene Meisterhandwerk des Haarsortierens und -mischens betreiben. Um eine optimale Melierung zu erreichen, werden zuweilen sieben bis acht unterschiedliche Menschenhaartypen gemixt. (500 Kilo Rohhaare lagert Brehmer Top dazu unter Tage.) Anschließend wird Haar für Haar auf exakt maßgeformte Tüllhauben gewebt oder geknüpft. Heimarbeiterinnen übernehmen diesen, den aufwendigsten Part. Dann noch anpassen, anklammern oder ankleben, schneiden, perfekt. Der Chef stolz: „Das ist die Kunst, daß unsere Haare so weich, so schön und trotzdem naturbelassen sind.“ Auf den Schwimmer, ein wasserabweisendes Folienhaarteil, in das die Haare einzeln eingestochen werden, hatte man sogar einst das Patent.

Die Leute wollen eben was Gutes. Das Gute kostet sie laut Holger Schwarze vier bis fünf Wochen Wartezeit und 800 bis 3.000 Mark. Erstaunlich wenig, möchte man meinen, wie lange hält denn so ein Ersatzteil? „Ganz verschieden“, so die Antwort. Das hängt davon ab, ob die Leute die Haare abends oder zu Hause abnehmen oder nicht. Problematischer können jedoch die Frisuren sein. Wenn zum Beispiel jemand das Haar aus der Stirn gekämmt hat. „Irgendwo muß man das ja befestigen.“

Hat jemand eindeutig genug Haare, dann rät der Meister schon auch mal ab. Stimmen dagegen Haare und Mensch nun überhaupt nicht überein, na, da kann es vorkommen, daß die vorhandene Pracht komplett abrasiert wird und eine neue Perücke zum Seelenheil verhelfen darf. Das grenzt dann schon wieder an göttliche Macht.

Silvia Plahl