„Sechs oder sieben Schüler fehlen immer...“

Serie: Berliner Gören '94 (vierte Folge) / Ostberliner Pädagogen, mit der eigenen Geschichte beschäftigt, stehen den Fragen der Kinder hilflos gegenüber / Emigrantenkinder sind in der Schule immer noch Randgruppe  ■ Von Detlef Berentzen

„In den Kabinetten ist es gepflegt, sauber und ordentlich. Die Gestaltung der Wände, des Raumes und der Anschauungsmaterialien verraten das Fach und zeugen von den Ideen und dem Einsatz der jeweiligen Klasse, die für das Kabinett und die jeweilige Flurvitrine verantwortlich ist. Die Gestaltung der Fachkabinette ist für die Klassen immer ein besonders wichtiges Anliegen der Schulmesse. Ein Hygieneaktiv kontrolliert den Zustand und die Sauberkeit der Räume. Eine Jury prämiert das schönste Klassenzimmer.“

Es war einmal: der „Pionierkalender 1989“ lobt die Ostberliner „Oleg-Koschewoi-Oberschule“ und vermerkt ordentlich, daß die Einrichtung „als „Pionierobjekt Nr.1“ einen Ehrenpreis bekommen hat.

Alles sauber und ordentlich. Alles, wie es sein soll. Keine Rede von der vorherrschenden Reglementierung und Schnüffelei. Keine Rede davon, daß Ostberliner Lehrer ihre Schüler und Schülerinnen nach Hause schickten, wenn die ihr Pionierhalstuch vergessen hatten, sie zum Rapport bestellten, wenn sie Unbotmäßiges auf die Wandzeitung der Schule schrieben, oder sie drangsalierten, wenn bei den Eltern daheim „etwas nicht stimmte“.

Kein Wunder also, daß Ostberliner Schüler heutzutage oft genug den Glauben an ihre einstigen Lehrer verloren haben und ihnen längst nicht mehr „Honig ums Maul schmieren“ – wie einst Jörg, als er noch „auftragsgemäß“ schrieb: „Zu meiner Klassenleiterin habe ich ein sehr gutes Verhältnis. Sie will, daß ich immer besser in der Schule bin. Wenn ich nicht aufpasse und erzähle, ermahnt sie mich und schimpft mich aus. Damit erreicht sie, daß ich langsam immer besser werde.“

Für derlei Anbiederung gibt es heute keinen Grund mehr. Denn: „Wie kommt es“, fragt Holger, „daß die uns früher voller Überzeugung den Sozialismus predigten und heute einfach die Schnauze halten? Die tun so, als wäre nichts gewesen!“ Holger mahnt Erinnerung und Aussprache an, die viele Lehrer meiden. Scham erfüllt sie.

Doch gibt es nur ein Mittel gegen diese Form des Schuldbewußtseins: die Wahrheit über die eigene Vergangenheit herstellen. Vor den Schülern. Dann gäbe es endlich tatsächlich etwas zu lernen, und dann wäre es vielleicht auch nicht mehr nötig, servil dem nunmehr geltenden Westberliner Schulsystem und seinen Protagonisten zu huldigen.

Solange aber das Schweigen vorherrscht, werden viele Ostberliner Lehrer in der öffentlichen Meinung (und vor allen Dingen in den Augen ihrer SchülerInnen) „zweite Garnitur“ und beliebte Projektionsfläche für (manchmal durchaus berechtigte) Vorurteile bleiben. Ihr hervorstechendster Makel: „Indoktrinator a.D.“.

Und die wenigen, die sich um eine demokratische und lebendige Bildung bemühen, bleiben in kleinen Haufen unter sich. Oft genug getrennt nach Ost und West. Überhaupt: Die Trennung bleibt Modus vivendi. Die Bewegung der SchülerInnen von Ost nach West und umgekehrt bleibt im Aggressionsstau stecken. Was für ihre Eltern und auch ihre LehrerInnen genauso gilt.

Gut, es gibt Schulpatenschaften, es gibt Lehrerkontakte und das gemeinsame Dach der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), doch was vorherrschend bleibt, ist die Berührungsangst. Man meidet den Kontakt. Die fremdelnden Welten in Ost und West harren der Exploration.

„Wie bitte?“ ereifert sich die Mutter des türkischen Jungen, „ich soll meinen Sohn nach Ostberlin in die Schule schicken? Das wäre das letzte, was ich tue!“ Und der Emigrantensohn von gegenüber pfeift dem Frager eins: „Zum Alex gehe ich höchstens rüber, um ein paar Ostler aufzumischen!“ – „Damit se drüben bleiben“, fügt er noch hinzu.

Das sind Beispiele. Nicht überall wird so gedacht und so gefühlt. Aber gerade die Emigrantenkinder dieser Stadt empfinden oft Abwehr, wenn es um den Osten der Stadt geht. Wenn man dann schon „rüber“ muß, meidet man bestimmte Bezirke, um nicht „aufgemischt“ zu werden, „von den Faschos, weißte!“

Es stimmt schon, was Lutz Rathenow neulich von der Höhe seiner Residenz am Strausberger Platz verkündete: „Die DDR war die letzte Insel des weißen Mannes.“ Eben das kann man spüren. Und klar wird: Der „Anschluß“ des östlichen Eilands braucht Zeit. Bleibt nur zu hoffen, daß diese Annäherung nicht soviel Zeit braucht wie der Anschluß des Schulsystems an die Emigrantenkinder dieser Stadt.

Wer mit Sahin redet, bekommt zu hören, daß er sich eigentlich schon immer „außen vor“ gefühlt hat. Zu Beginn der Schulzeit gab es noch keine großen Probleme, aber jetzt, auf der Hauptschule, fühlt er sich regelrecht alleingelassen. Klar, er hat da einen Haufen Freunde aus dem Kiez, „Kumpels“ genannt, und man hält zusammen (vor allen Dingen gegen die Lehrer), aber der Junge spürt sehr wohl, daß das alles wenig Sinn macht.

Er besucht den Schultyp, der das niedrigste Bildungsprestige von allen hat. Was für ein blödes Gefühl war das schon damals, als er das Abschlußzeugnis seiner Grundschule in den Händen hielt: „Hauptschulempfehlung!“

Kein Wunder, dieses miese Abschlußzeugnis, denn wieviel Interesse soll ein Sohn türkischer Eltern an einem Schulstoff aufbringen, der in der Regel alles andere meint als ihn und seine besondere Situation.

„Paß dich einfach an“, hat einmal der Großvater zu ihm gesagt, oder: „Mach's wie der Metin.“

Ja, Metin, der hat die Ruhe weg, gute Zensuren und überhaupt: Ein ganz Stiller ist der, ein Zarter, einer, den die LehrerInnen immer mochten. Aber Sahin? Er ist wild, ungebärdig und vorlaut. Alles regte ihn gleich auf. Das Kollegium kam fast geschlossen nicht mit ihm klar. Warum ER nicht klarkam? Wer hatte schon Zeit, sich darum zu kümmern? Ein, zwei Hausbesuche der Lehrerin, und dann: Basta.

Folge: Sahin läuft nur noch nebenher. Ob er den Abschluß der Hauptschule schaffen wird, ist ungewiß. Metin besucht inzwischen das Gymnasium, wird möglicherweise auch das Abitur schaffen. Motto: Einer kam durch. Denn es sind – auch wenn es in den letzten Jahren mehr geworden sind – immer noch nur wenige Emigrantensöhne und noch weniger Emigrantentöchter, die bis zum Ende des Gymnasiums durchhalten.

Besser sieht es da schon auf den Gesamtschulen aus: So vorhanden, werden sie gern besucht, bieten sie doch wenigstens die Chance des Realschulabschlusses. Allerdings nur dann, wenn Junge oder Mädchen am Lehrstoff dranbleiben – und das ist beileibe nicht immer der Fall. Man frage einmal einen Gesamtschullehrer: „Sechs oder sieben Schüler einer Klasse fehlen immer, haben sich einfach ausgeklinkt...“

Also lebt ein Teil der Kinder auf der Straße. Auch während der Schulzeit. Drückt sich. „Baut Scheiße“, was sonst? Oder orientiert sich: Was liegt im Trend, welche Klamotten trägt man, „welches Video haste dir schon reingezogen?“

„Ja, wir damals...“, kann man Eltern stöhnen hören. Wie bitte? Hat die Schule früher etwa mehr Spaß gemacht? Waren denn die Lehrer damals verständnisvoller, der Stoff interessanter? Nein. Oder waren die Eltern früher aufmerksamer, fürsorglicher, widmeten sich ihren Sprößlingen öfter und intensiver? Nein.

Gab es einen Senat, der sich für die Belange aller Schüler mit Vehemenz engagierte? Nein. „Aber es gab Schulsenatorin Ilse Reichel.“ Ausnahmen bestätigen die Regel, denn das Kaliber einer Senatorin Laurien war die Regel in Berlin. Was also?

Die Schüler dieser Stadt nehmen sich, in respektabler Zahl, die Freiheit, mehr oder minder anzudeuten, daß mit dieser Schule, mit ihren Inhalten und Formen etwas nicht stimmt. Das tun sie auf verschiedene Weise. Sie verweigern sich, sie erkranken und werden zunehmend aggressiver. Und die erwachsene Welt wundert sich.

Und sie hat Grund, sich zu wundern. Über sich selbst. Wie kommt sie dazu, nicht zu verstehen, daß die kulturelle Krisis sich im sensibelsten Teil der Gesellschaft am auffälligsten niederschlägt, in ihren Kindern? Und wie ist es möglich, daß die Erwachsenen dieser Stadt kaum verstehen, daß sie es sind, die die Gestalter und Verursacher dieser Krisis sind?

Die Gören dieser Stadt reagieren gesund: Sie versuchen in ihrer jeweiligen Sprache auszudrücken, daß etwas nicht paßt, grundlegend nicht paßt. Nur: Es gälte, ihnen zuzuhören.

Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen der Kindheit, war Herausgeber der Zeitschrift „enfant T.“ und arbeitet für Fachzeitschriften und den Rundfunk.

Die fünfte Folge erscheint am Montag kommender Woche.