"Das haut mich aus den Socken"

■ Sie lügen, übertreiben, verzerren: Boulevardzeitungen / Von erfundenen "Krimi-Kindern", einem vergewaltigten jungen und wie sich "B.Z." und "Berliner Kurier am Sonntag" ihre Welt zurechtstricken

Am vergangenen Mittwoch, morgens um halb acht, traf Ahmed* der Schlag. Er war auf dem Weg in die Ferdinand-Freiligrath- Oberschule, lief an einem Kiosk vorbei – und starrte auf die Schlagzeile der B.Z., „die größte Zeitung Berlins“.

In vier Zentimeter hohen Lettern log die B.Z. an diesem Morgen vierzeilig: „Berlins Krimi-Kinder. Ich bin 14. Ich raube Omas aus.“ Auf dem Foto neben der Schlagzeile war Ahmed abgebildet. In viel zu großer Lederjacke, mit Turnschuhen, vor seiner Schule und von hinten. Unter dem Foto hatte die B.Z. gedichtet: „,Fotografieren dürft Ihr mich nicht. Meinen Namen müßt Ihr ändern.‘ Wir nennen ihn Jens. Er ist kriminell. Mit 14.“

Einzig die Altersangabe von Ahmed stimmt, ansonsten: nichts. Inzwischen haben alle Schüler und Lehrer an seiner Schule von der B.Z.-Geschichte erfahren; sie reden über ihn, witzeln. Ahmet schläft seitdem unruhig, träumt schlecht, wie er sagt. Seine Mutter hat gegen den Axel Springer Verlag Strafanzeige erstattet.

Gegenüber der taz berichtete Ahmed, daß er und vier Freunde am letzten Dienstag, nach Unterrichtsschluß um 13.30 Uhr, von zwei B.Z.-Reportern angesprochen worden seien. Die Textreporterin Anne Nürnberger habe die Jungs gefragt, ob sie Jugendliche kennen würden, die Erwachsene überfielen, wie sie die ausraubten – und was sie davon hielten. Ahmed und seine Freunde antworteten, ja klar gibt es so Leute, die noch jung sind und in Kaufhäusern CDs klauen und Omas ausrauben. Nach dem etwa zehnminütigen „Interview“ bat Anne Nürnberger die Kinder, sich fotografieren zu lassen. Ahmeds Freunde lehnten ab, Ahmet aber gab sein Okay. Anne Nürnberger machte ihm das Foto schmackhaft. Sie sagte, wir fotografieren dich so, daß man dich nicht erkennt. Sie gab Ahmed ihre schwarze Lederjacke. Und der Fotograf bekam sein Bild. Auf Seite 11 erschien Ahmeds Gesicht, nur wenig unkenntlich gemacht durch seine Hand.

Der Artikel von Frau Nürnberger ist eine gedruckte Lüge. Sie schreibt, „Jens“ (also Ahmed) spiele keinen Fußball, aber Ahmet ist im Fußballverein. „Jens“ entreiße älteren Frauen „brutal“ die Handtasche, „Jens“ gehe klauen und rauben, er und seine Freunde nennten sich „Mini-Mafia“. Frau Nürnberger zitiert „Jens“ mit den – erfundenen – Worten: „Das ist doch ganz normal.“

Ganz normal. Die Phantasie der Anne Nürnberger ist groß, auch wenn sie Wörter oder Satzstellungen benutzt, die so nur von Erwachsenen kommen können. Sie läßt „Jens“ sagen: „Wir stopfen uns in Kaufhäusern die Jacken mit Walkmans und anderen Kleinigkeiten voll. Dabei muß immer einer Schmiere stehen, die Verkäufer beobachten. Wir wissen genau, in welchen Umkleidekabinen Kameras hängen, wo die Ladendetektive besonders fit sind. Unsere Beute verticken wir dann auf dem türkischen Basar oder dem Polenmarkt.“ Märchen-Ende.

B.Z.-Chefredakteur Wolfgang Kryszohn wollte die taz nicht sprechen. Auch Anne Nürnberger mochte gegenüber der taz nicht reden. „Reden Sie mit Herrn Ruhmöller“, empfahl sie. Thomas Ruhmöller ist Lokalchef der B.Z. Angesprochen auf die Krimi-Kinder-Geschichte, flüchtete er sich ins Vage, Allgemeine, Ungefähre. Es sei doch „natürlich“ und „in unserer Branche durchaus üblich“, daß man kriminelle Kinder sprechen wolle, wenn der Senat von 9.000 kriminellen Kindern in Berlin ausgehe (tatsächlich sind es 9.000 Fälle jugendlicher Kriminalität; rund 300 Jugendliche begehen 60 Prozent der 9.000 Straffälle). Und: „Ich versichere Ihnen, die Jungen wußten, von wem und für wen sie fotografiert wurden.“ Daß bei minderjährigen Kindern die Eltern um Erlaubnis gefragt werden müssen, wenn sie fotografiert werden, ist für Herrn Ruhmöller kein Thema. Statt dessen wird er persönlich und sagt: „Sie sind aber komisch drauf. Seit Sie wissen, daß die Geschichte von einer Frau geschrieben wurde, stellen Sie nur so komische Fragen. Haben Sie Probleme mit Frauen?“ Offenbar hat Ruhmöller welche, denn er fragt: „Kennen Sie überhaupt die Familienverhältnisse? Wissen Sie, daß die Mutter eine Alleinerziehende ist?“

Thomas Ruhmöller verschweigt, daß bereits einen Tag nach Veröffentlichung die B.Z. bei Ahmeds Mutter anrief und sich bei ihr entschuldigte. Man bot ihr an, eine kleine Meldung ins Blatt zu nehmen, „irgendwann demnächst“. Doch Ahmeds Mutter redet nicht mehr mit der B.Z. Vertrauen hat sie im Moment nur in ihren Rechtsanwalt.

Ähnlich instinktlos wie die B.Z. verfuhr der Berliner Kurier am Sonntag. Anfang Februar erschien in der Boulevardpostille auf Seite 1 eine Geschichte – „Sex-Gangster überfiel Jungen beim Angeln“ –, die auf Seite 4 fortgesetzt wurde. In flockig-reißerischer Manier berichtete Redakteur Olaf Sonnenberg über einen Jungen aus Berlin, der von einem unbekannten Mann sexuell mißbraucht worden war. Sonnenberg nannte in diesem Artikel des Jungen Alter und Haarfarbe, seinen – seltenen – Vornamen und den richtigen Anfangsbuchstaben des Nachnamens. Er schrieb, in welchem Stadtteil der Junge lebt und wo er regelmäßig angelte: „Es ist sein Lieblingsplatz.“

Diese Details ermöglichten es Nachbarn, Mitschülern und Lehrern, den Jungen als das vom Berliner Kurier am Sonntag beschriebene Opfer zu identifizieren. Der Junge steht seitdem nicht nur unter dem Schock der Vergewaltigung, für ihn begann durch die Veröffentlichung auch ein Spießrutenlauf zwischen Neugier und Voyeurismus.

Die Eltern des Jungen beauftragten Rechtsanwalt Andreas Zielcke, gegenüber dem Berliner Kurier am Sonntag eine Unterlassungserklärung zu erwirken. Zielcke ist Experte im Presserecht, und tatsächlich erklärte die Geschäftsleitung des Blattes, wenn über die Vergewaltigung noch einmal berichtet werde, dann nie wieder so detailliert, daß die Persönlichkeitsrechte des Jungen verletzt würden.

Offen bleibt, wer Sonnenberg Namen und Adresse des Jungen gegeben hat. Sonnenberg selbst wollte dazu keine Angaben machen, außer: „Geld habe ich für die Informationen nicht gezahlt.“ In einem Brief an den brandenburgischen Innenminister Alwin Ziel (der darauf bis heute nicht geantwortet hat) schrieb Zielcke, daß Sonnenberg diese Informationen aus dem Potsdamer Polizeipräsidium erhalten habe. Er, Zielcke, appelliert in dem Brief an Ziel, den undichten Stellen im Polizeiapparat nachzugehen.

Der Chefredakteur des Berliner Kurier am Sonntag, Wieland Sandmann, war gegenüber der taz nicht gesprächsbereit. Redakteur Olaf Sonnenberg war dagegen ungewohnt offen. Es sei ihm „schon mulmig gewesen“ bei der Geschichte, weil er so viele Details genannt habe. Daß seine Geschichte dem Jungen geschadet hat und daß Rechtsanwalt Zielcke eine Unterlassungsverpflichtung erwirkt hat, war Sonnenberg bis zum Anruf der taz nicht bekannt. „Das haut mich aus den Socken“, fiel ihm nur ein. Und: „Die Geschichte hätten wir uns verbeißen sollen.“ Thorsten Schmitz

Name von der Redaktion geändert.