„Praktische Intelligenz“ ist gefragt

■ Grüner Bildungskongreß erteilt Absage an Kulturkampf

Berlin (taz) – 68 ist tot! Es lebe 68. Aber nicht mehr als großer Kulturkampf in und um die Bildungseinrichtungen – angesagt ist die List der ungewöhnlichen Bündnisse. Mit Jahresstundentafeln in den Schulen und globalen, selbstverwalteten Unihaushalten soll Kultusministerkonferenzen und preußisch geprägten Schulbürokratien mehr Eigenständigkeit abgerungen werden. „Man kann nur alle ermutigen, die jetzt Schulversuche wagen wollen!“ Antje Vollmers Satz besitzt seine Gültigkeit für alle Bildungssparten, die auf einem Kongreß von Bündnis90/Die Grünen am Wochenende in Berlin problematisiert wurden: Schule, Berufs- und Hochschule.

Der erstarrte und zerrüttete Bildungsbereich steht in krassem Widerspruch zu dem, was junge Menschen sich kognitiv und sozial aneignen müssen, um als Mündige auftreten zu können: „Ist es in der Demokratie vertretbar, daß das Wissen rasend schnell anwächst und die Menschen nur in Sonntagsvorlesungen davon erfahren?“ fragte der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ullmann. Die Antwort kam nicht von seiner Partei, den Bündnisgrünen. Mit unerwarteter Parallelität diskutierten die Beteiligten sechs hochkarätiger Foren: Gefragt sind teamfähige, nicht nur in einer Sprache kommunikationsbereite junge Erwachsene, die Fachkompetenz haben, Überblickswissen und die eins können müssen: lebenslang lernen.

Solcherlei Fähigkeiten werden aber in Lehranstalten eher zufällig vermittelt. In den Schulen stehen verunsicherte LehrerInnen einer gewalterfahrenen Schülerschaft gegenüber. Der anachronistische Hauptschulabschluß qualifiziert zu (fast) gar nichts mehr. Die eigentliche Hauptschule der Nation ist das Gymnasium geworden, bald erringt die Hälfte aller Schulabgänger das Abitur. Auch die Berufsbildung ist aus dem Lot: Im Osten gibt es keine Lehrstellen, im Westen fahnden besonders die Handwerksmeister nach Azubis. Derweil haben sich die Hochschulen zu unwirtlichen Massenveranstaltungen entwickelt. Ein Häuflein Dozenten steht den Studierenden gegenüber, denen jede substantielle Mitsprache verweigert wird. Auf dem Weg ins nächste Jahrtausend scheint Bildung schlecht gerüstet.

Wie das zu ändern sei, wurde in einem ungewöhnlichen Bündnis der Querdenker diskutiert. „Die Dinosaurier müssen sterben“, sagte der Geschäftsführer der Handwerkskammer Hamburg, Jürgen Hogeforster. Er bezog dies auf die Mammutunternehmen in Wirtschaft und Bildung gleichermaßen. Bei Hamburgs Senat seien bereits „Produktionsschulen“ nach dänischem Vorbild beantragt, die benachteiligten Jugendlichen die Chance zu Arbeit und Bildung gäben.

In den Lehrplänen dürfe keinesfalls ein Rückgriff auf deutsche Sekundärtugenden erfolgen. Die Akzeptanz von Autoritäten als „fragloser Folgebereitschaft“ sei nach 45 passé, und das müsse weiter gelten, sagte Micha Brumlik. Auf die Hochschulen angewandt, bedeutet das den Versuch, „ständische Modelle aufzubrechen“, so Ingrid Fitzeck von den Grünen aus NRW. Die turmhohen Klippen chronischer Unterfinanzierung und verfassungsgerichtlich zementierter Professorenmajorität müssen zunächst umschifft werden: indem die StudentInnen substantiell beteiligt werden an der Gestaltung der Hochschulen.

Gerhard Neuweiler, der letzte Vorsitzende des Wissenschaftsrats, fordert dazu stichwortartig die Aufwertung der „praktischen Intelligenz“ in den Fachhochschulen. Diese sollten einerseits mit der Berufsbildung verzahnt werden, andererseits klare theoretische Bezüge enthalten. Konkret hieße das: Projektstudien, Methodenwissen, Teamarbeit und öffentliche Reflexion des Geforschten und Gelehrten. Jens Reich wollte dieses Prinzip auch zur Selbstbeschränkung der Wissenschaft angewandt wissen. „Sie dürfen uns mit dieser Forschung nicht allein lassen“, sagte der Molekularbiologe in seinem Eröffnungsvortrag über Genforschung. „Es reicht nicht aus, die Verantwortung der Wissenschaft nur in Sonntagsreden abzuhandeln“, antwortete Regine Kollek vom Hamburger Institut für Sozialforschung einen Tag später. Und dennoch gibt es keine Alternativen zur Wissenschaft. Das war zwar heftig umstritten. Aber gegen die abgeschottete Verflechtung von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik helfe eben nur „schonungslose Veröffentlichung der Forschung“ (Reich). Der Frankfurter Sozialökologe Egon Becker sagte, „wenn die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik nicht mehr besteht, gibt es keinen legitimen Grund mehr, irgend jemanden aus der Diskussion auszuschließen“. Christian Füller

und Andreas Sentker