Wenn man anders ist...

■ Martha Baer kommt 1885 in Arolsen auf die Welt - aber im falschen Geschlecht: Wie aus Martha Karl wurde oder: Odyssee zwischen Frau und Mann / Vom Wissen des Körpers

Kein Mann, keine Frau, kein Zwitter, ein „Niemand“. So fühlte sich der Verfasser einer kaum zu glaubenden Autobiographie 22 Jahre lang. Eine kleine äußerliche Korrektur machte ihn 1906 zu dem, was er immer war, aber selbst nicht wußte: zum Mann. Wochen nach der Korrektur schrieb er unter dem Pseudonym „N.O.Body“ seinen Lebensbericht.

Das Buch erschien zum erstenmal 1907. Es landete bei den Nazis auf dem Scheiterhaufen und geriet dann in Vergessenheit. Bis Hermann Simon, Leiter des Berliner Centrums Judaicum, es wieder hervorkramte. Der Reprint ist kürzlich mit einem spannenden Nachwort erschienen. Denn Hermann Simon weiß, was aus N.O. Body wurde: Direkor der jüdischen Logen in Berlin. 1938 emigrierte er nach Palästina und starb dort 1956. Sein Name: Karl M. Baer.

Aber geboren wird er 1885 als Martha Baer in Arolsen. Weil der Penis ein wenig verwachsen ist, erklärt ein unfähiger Arzt das „eigentümliche“ Kind zum Mädchen. Damit die „scheußliche Sache“ geheim bleibt, zahlt der Vater an die Hebamme und später an die Kindermädchen horrende Schweigegelder. Wie es dem Kind geht, interessiert niemanden. Die Autobiographie erzählt davon. 22 Jahre lang leidet er unter der Spannung zwischen seinem jungenhaften, männlichen Aussehen und der weiblichen Erziehung. „Es gibt ein Wissen des Körpers, das stärker ist als alle Logik“, schreibt er. Er empfindet frühkindliche erotische Gefühle für Mädchen, weiß, daß er „anders“ ist, fängt an, wie Mädchen zu fühlen und zu denken.

Die massiven Schwierigkeiten beginnen in der Pubertät. Die Freundinnen in der Töchterschule bekommen die Menstruation, er gerät in den Stimmbruch, der Bart fängt an zu wachsen. Die tiefe Stimme hält er für beginnende Schwindsucht, die Bartstoppeln brennt er ab. Als 16jähriger wird er „Lehrmädchen“, lebt mit seinen Kolleginnen in einem Zimmer. Die Unerträglichkeit, körperlich „anders zu sein“, treibt ihn fast zum Selbstmord. Der erste Schritt zu seiner Befreiung ist die Erkenntnis, daß alle Frauen gesellschaftlich unterdrückt sind. „Frauen sind nicht minderwertig, sondern anders“, erkennt er. Er rebelliert gegen die Diskriminierung auf eine „männliche Weise“, eignet sich zusätzliches Bücherwissen an und wird zum erfolgreichen Frauenrechtler.

Für eine Wohlfahrtsorganisation fährt er nach Osteuropa und kämpft für das Frauenwahlrecht. Über die „charismatische Mischung“ von „weiblicher Anmut mit männlichem Geist“ schreiben die Zeitungen. Erneut stürzt er in Depressionen, als er sich als Frau in eine Frau verliebt. Nach einem kleinen Unfall erkennt ein Arzt den Irrtum seines Lebens. Es wird der Beginn zu einem neuen. Anita Kugler

N.O.Body, Aus eines Mannes Mädchenjahren, Reprint Edition Hentrich, Berlin 1993, 24 Mark.