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Jenseits der Opfer-Bilder

„Real Stories – Eine Revision der dokumentarischen und erzählenden Fotografie“ im Essener Folkwangmuseum versucht, den Fotografen als gesellschaftlich Handelnden innerhalb der zeitgenössischen Theorie zu re-etablieren  ■ Von Jochen Becker

Im Katalog der Grazer Ausstellung „KRIEG.“ (siehe taz vom 6. November) beschreibt Fred Ritchin die Abstumpfung gegenüber Kriegsbildern aus Ex-Jugoslawien. Während die Werbung ihre Bildsprache beständig umwälze und dabei die Bildreportage inkorporiere, beharre die Dokumentarfotografie auf „trauernden Witwen, verwundeten Kindern, zermürbten Soldaten“. Angesichts der zunehmenden Einbindung von Bildjournalisten in die Propagandaarbeit der kriegführenden Parteien suchten einige Fotografen nach selbstbestimmten Arbeitsmöglichkeiten, von der Kooperation mit Hilfseinrichtungen bis zur Abkehr vom üblichen Distributionsweg TV/Zeitung/Magazin. So produzieren einige Bildreporter in Eigenregie Bücher, „die Fotografie, Text und Layout so miteinander verbinden, daß Dinge verdeutlicht und nicht verwischt werden“. Andere experimentieren mit Video oder „kombinieren die Techniken der Reportage mit denen des Künstlers, in dem Versuch, den Ereignisbezug von parteiischen Betrachtern zu rekonfigurieren.“

„Real Stories“ setzt im Essener Folkwangmuseum genau hier an und demonstriert überzeugend deutlich „eine Revision der dokumentarischen und erzählenden Fotografie“. Am Anfang des Katalogs stehen zwei Videoprints. Im Fadenkreuz ein rechteckiger Betonklotz, dann eine Staubwolke. In der Ausstellung präsentiert Deborah Bright Schlachtfelder von Waterloo und Somme als schwarzweiße Panoramen. Die aneinandergelegten und kommentierten Aufnahmen zeigen bei einer Farm in Belgien nur noch kleinere Schäden an der Wand, während der Rest nunmehr unkenntlich verbrannte. Über das von Gräbern und Bombenkratern zerfurchte Feld in Frankreich wächst nach 66 Jahren zwar Gras, doch kann es die tiefen Spuren kaum verwischen.

Jan-Erik Lundström – er stellte die Wanderausstellung im dänischen Museet for Fotokunst in Odense zusammen – verabschiedet den Realismus des dokumentarischen Verfahrens, möchte jedoch dessen „Realitätseffekt“ gewahrt wissen. Ihre „doppelte Konnotation“ von Erziehung und Information trägt die Dokumentarfotografie seit ihrem Erscheinen im Rahmen anthropologischer und ethnografischer Forschung mit sich. Ein erster Einschnitt zeichnete sich mit dem Niedergang der Illustrierten und Bildessays ab. Laut Lundström wechselte die ambitionierte Dokumentarfotografie von den Seiten der Magazine und Bücher an die Wände der Museen. Die aus der Summe einzelner Aufnahmen montierte Bildstrecke blieb so zwar gewahrt, durch den neuen Kontext traten jedoch formale Aspekte in den Vordergrund: Walker Evans Sozialreportagen – um ein Beispiel zu nennen – hatten nun nicht mehr Teil am Projekt der ländlichen Aufklärung und verloren so ihren vormaligen Gebrauchswert. Spätestens seit den siebziger Jahren ist die Thematisierung der formalen Normen und institutionalisierten Praktiken Usus; hierfür stehen etwa Jeff Walls offenmerklich gestellte Doku-Scenarios oder Martha Roslers Attacke gegen die „Opfer-Fotografie“ des nach unten gerichteten Kamera- Objektivs. Die Frage stellt sich laut Lundströms Kurz-Geschichte der Dokumentarfotografie nunmehr neu: „Wie re-etablieren wir uns als gesellschaftlich Handelnde innerhalb der zeitgenössischen Theorie?“ Oder anders gefragt: Wie geht man bewußt und aktiv mit den Effekten der Realität um?

Vid Ingelevics' Installation „Places of Repose: Stories of Displacement“ geht der Wanderschaft seiner Angehörigen aus Lettland im Zuge des Zweiten Weltkrieges nach. Familienalbum, niedergetippte oral history, lettische Briefmarken mit Hitlerkopf, Aufnahmen von Wohnzimmern, KZ-Toren und kiefernbestandenen Landschaften zeigen durch Montage, schemenhafte Überlappungen und anschließende Repro-Fotografie die Ablagerungen einer Vertreibung. Diese Schichtbilder klebte Ingelevics wie einen Schmutzschutz mit weißen Klebestreifen auf Schubladenböden und Türen einfacher Hochkommoden und -schränke, fotografierte sie erneut, und fügte diese mehrfach überlagerte Montage erneut in sieben Möbelstücke ein. Der Besucher muß diese Zeugnisse einzeln hervorziehen und öffnen, um sie betrachten zu können. Ein Gesamtüberblick bleibt so verwehrt.

Carol Conde und Karl Beveridge unterstützen seit mehr als zehn Jahren mit ihren Arbeiten gewerkschaftliche Selbstdarstellungen. Die über acht Meter breite Bildtafel „No Power Greater“, 1990–91 in Zusammenarbeit mit den „Canadian Autoworkers Local 1967“ im McDonnell-Douglas- Werk Toronto entwickelt, attackiert die mehrteilige Collage aus Texttafeln, nachcolorierten historischen Arbeiterfotos, gemalten Requisiten und Bühnen-Akteuren ein von Unternehmerseite neuentwickeltes „Team-Konzept“. Die verfeinerte Managementmethode verheißt den Arbeitnehmern Mitsprache, meint aber höheren Ertrag für die Arbeitgeber: „Die Firma zeigte uns Videos, wie man mehr und sinnvoller arbeiten könne. Wenn es der Firma gutgeht, geht es uns gut. Klang gut, bis ich merkte, daß sinnvoller arbeiten Stellen streichen hieß.“ Der Euphemismus „Team-Konzept“ führt letztlich zu Desolidarisierung der bisher in der „Union“ organisierten Arbeiter, statt ihren Teamgeist zu stärken.

Passend zum aktuellen Arbeitskampf der IG Metall in Deutschland lauten die Stichworte auf dem eingearbeiteten Plakat: „Effizienz, Qualität, Produktivität, Lohnzurückhaltung“. Conde & Beveridge montieren im zentralen Teil auf der einen Seite das publizistische Begleitprogramm – Coverstories von Newsweek und Fortune, Themensendungen im Fernseher; auf der anderen dagegen TV-Aufnahmen vom Arbeitskampf und Demonstrationen hispanischer und indianischer Aktivisten. Auf der einen Hälfte haben sich die Arbeiter Kappen und Windjacken ihrer Arbeitgeber übergestreift; gegenüber stehen sie um die Erde als einer Art Tischplatte, verwoben und verstrickt in die globalen Folgen der westlichen Industrialisierung: „Es ist die Betriebskomponente von Freihandel, Privatisierung und der Ausschaltung sozialer Dienste und Gemeinschaftskultur. Es ist kurz gesagt ein weiterer Schritt in den Alptraum der neuen Weltordnung – Global Inc.“ Einer strukturalistischen Methode, Ordnung zu schaffen, geht Jamelie Hassans Installation „Vitrine 448“ nach. Dort versammelt das Pariser „Musée de l'Homme“ Artefakte, welche der Ethnologe Claude Lévi-Strauss 1937 von einer Expedition zu den brasilianischen Caduveo-Indianern mitbrachte. Neben dem Foto der Vitrine und einem Museumsposter lehnen Bretter mit Ornamenten, die sich in den Gesichtsbemalungen zweier frontal abgelichteter Indiofrauen wiederholen. Auf einem Schreibtisch steht ein Karteikasten, in dem alternierend Karten von Lévi-Strauss und neue der Künstlerin liegen. Der scheinbar nüchterne Blick des Menschen- Forschers und sein Ordnungswille werden durch die mehrfache Distanzierung der Installation gekontert: Die persönlich formulierte Annäherung von Jamelie Hassan an das Objekt ihrer Untersuchung ist so arrangiert, daß es dem Besucher ermöglicht, seinerseits die Exponate und Dokumente zu erkunden. „Bedeutung erschließt sich allein in der Verwendung“, entgegnet Jan-Erik Lundström den Fallen humanistischer Absichten. So entrinnen bei Conde & Beveridge die Abgebildeten dem Bildobjekt- Status durch Beteiligung; Jamelie Hassans Installation streift durch die Möglichkeit einer Besucher- Partizipation die pure Versachlichung der dargestellten Indios ab, wie sie noch die Vitrine im „Museum des Menschen“ nahelegt. Während die zeitgenössische Anthropologie dazu übergeht, sich mit der Selbstdarstellung der Gruppen zu befassen, um sich von der Fremdbestimmung der Untersuchten zu lösen, verhilft die Fototherapie den Patienten in vergleichbarer Weise zu einem neuen Selbstbild. Diese Methode der „Neuerfindung des Familienalbums“ unter Zuhilfenahme klassischer Psychotherapie und -analyse ist Teil des „Crisis Project“ von Terry Dennett und Jo Spence. Dennetts eher konventionelles Bilderarchiv aus seiner Stadtteilarbeit trifft auf die Therapiefotos von Jo Spence – zwischenzeitlich selbst an Krebs gestorben – mit quer über den operierten Körper laufendem „Monster“-Schriftzug: Eine Abfolge von Bildern städtischen und körperlichen Zerfalls, um diesem zu begegnen.

Weiter nehmen noch Hamish Buchanan, Donigan Cumming, Connie Hatch, Jim Pomeroy, Allan Sekula, Stephen Willats und Rhonda Wilson an „Real Stories“ teil. Der empfehlenswerte Katalog (englisch mit deutscher Textbeilage) kostet 29 Mark; die Ausstellung läuft bis zum 20. März, Folkwangmuseum/Essen.

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