Wo die Berliner Mauer neu entsteht

In Sarajevo schweigen die Waffen – dafür wird die Stadt geteilt / Die Brücke in den „serbischen“ Sektor, wo die Russen stationiert sind, bleibt entgegen erster Hoffnungen gesperrt  ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder

Die Brücke über den Miljacka- Fluß in Sarajevo sollte einmal die „Brüderlichkeit und Einheit“ der jugoslawischen Völker symbolisieren. Vielleicht wird jetzt erst deutlich, daß die Propaganda des kommunistischen Regimes nicht immer nur dick aufgetragen war. Denn der Ort war klug gewählt: Die Brücke verbindet den serbisch dominierten Stadtteil Grbavica mit dem Rest der Stadt.

Seit jeher hatten serbische Nationalisten ihre Hochburg hier. Und als vor 23 Monaten der Krieg begann, scheuten sie keine Grausamkeiten, um sich den Stadtteil militärisch zu sichern. Gerade im Schatten der Brücke ging der Geist der „Brüderlichkeit“ verloren. Titos Bilder wurden von den Wänden der Amtsstuben gerissen. Indem der serbische Nationalistenführer Radovan Karadžić schon vor Beginn des Krieges mit schnellen Strichen auf die Karte der Stadt einen serbischen, muslimischen und kroatischen Sektor zeichnete, bedeutete er sein zweites Ziel: auch die Einheit der Stadt sollte der Vergangenheit angehören. Mit dem Kainsmal Serbe, Kroate oder Muslim sollten die Menschen versehen werden, Mauern der Trennung um sie herum entstehen. „Die Stadt“, so einer der serbischen Kommandanten von Grbavica erst vor ein paar Tagen, „wird niemals mehr eine Einheit sein. Wir wollen die Teilung.“

Ist der Brücke der „Brüderlichkeit und Einheit“ das Schicksal der Glienicker Brücke an der Berliner Stadtgrenze beschieden, wo über Jahrzehnte lang nur ein paar Gefangene und „Spione“ ausgetauscht worden sind? Den Bürgern Sarajevos wird erst jetzt, nachdem die serbische Artillerie endlich schweigt, bewußt, wie weit die Teilung der Stadt schon gediehen ist. Als sich am letzten Sonntag einige hundert Menschen wieder auf die Straße trauten und für die Einheit demonstrierten, wollten sie sich aus Ohnmacht und Resignation befreien.

Blauhelme bewachen die Demarkationslinie

Schon am 1. März hatten sich Hunderte an der Brücke zusammengefunden. Damals wollte der britische Oberkommandierende der UNO-Truppen in Sarajevo, Michael Rose, nach dem Ablauf des Ultimatums und dem Rückzug der schweren Waffen den ersten Schritt zur „Normalisierung“ gehen und die Brücke wenigstens für UNO-Fahrzeuge und Mitglieder der internationalen Hilfsorganisationen öffnen. Doch während die Stunden verrannen, erloschen die Hoffnungen in den Augen der Menschen. Eine ältere Dame, die von ihrem neuen Flüchtlingsdomizil – einem halbzerstörten Gebäude im bosnischen Teil der Stadt – ihre alte Wohnung in Grbavica sehen kann, wollte unbedingt mit nach „drüben“ in ihre alte Wohnung. Erst als die UNO-Truppen den Befehl zum Abrücken erhielten, zog auch sie sich zurück. Seither sind UNO-Soldaten nur da, um die Demarkationslinie zu beobachten.

Noch ist die Brücke trotz des Waffenstillstands eine heiße Grenze. Nachts schrecken die Anwohner gerade hier von dem Maschinengewehrfeuer und den Granaten auf, die von der serbischen Seite abgefeuert werden. Es sind Granaten aus Panzerfäusten oder aus anderen tragbaren Waffen, die auch nach dem Rückzug der schweren Waffen aus der 20-Kilometer-Zone um die Stadt weiter versteckt gehalten sind. Doch mehr noch quält der Gedanke, die UNO nähme das hin, was durch den Krieg geschaffen wurde. Allein das Zeichen, daß russische UNO-Truppen in den „serbischen“ Stadtteil eingerückt sind, gibt vielen zu denken.

Vize-Bürgermeister Anto Zelić beklagt, daß die Russen nicht überparteilich seien. Sie hätten sich auf die Seite der Aggressoren geschlagen. Ejub Ganić, Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums, fragt nach den Hintergründen für die Stationierung der russischen Truppen im anderen Teil der Stadt. „Das Argument gegen die Installierung türkischer UNO-Truppen war Parteilichkeit – in bezug auf die Russen spielt dieser Hinweis wohl keine Rolle.“ Der Gedanke, daß die Großmächte ihre Einflußsphären „über unsere Köpfe hinweg“ bereits abgesteckt hätten – für den Westen wäre diese Kroatien und Restbosnien, für Rußland Serbien und die serbisch besetzten Gebiete in Bosnien und Kroatien –, bedrückt auch andere Politiker und Bürger in Sarajevo. Denn dieser Umstand bedeutete ja wohl die Teilung der Stadt für eine lange Zeit, „dann hätten wir tatsächlich eine Art Berliner Mauer“.

Im UNO-Hauptquartier der Stadt will man von solchen Befürchtungen nichts wissen, zerstreuen kann sie aber der Sprecher der Unprofor, Bill Aikman, nicht. „Der Weg zum Frieden ist eben lang und mühsam. Immerhin ist ja erreicht worden, daß die Stadt nicht mehr von Artillerie beschossen wird“, versucht er zu beruhigen. Die Unprofor wolle keineswegs die Teilung der Stadt akzeptieren. Immerhin lägen ja auch die Pläne für ein UNO-Protektorat Sarajevo schon auf dem Tisch. Allerdings würden die politischen Entscheidungen vom UNO- Hauptquartier in New York getroffen.

Der Regen hat die schönen Frühlingstage kurz nach dem Nato-Ultimatum wieder verdrängt. Weder funktioniert die Wasserversorgung, noch klappt es mit der Elektrizität. Noch immer stehen die Menschen vor den Verteilungsstellen der humanitären Hilfe Schlange. Um die Stadt wieder lebensfähig zu machen, müßte das Umland, müßten die zehn Distrikte, aus denen Sarajevo bestand, wiedervereinigt werden, „für eine Übergangszeit meinetwegen als Protektorat der UNO,“ schlägt sogar der UNO-Kritiker Zelić vor. Denn die Industrie läge außerhalb der eigentlichen Stadt, während diese vor allem Dienstleistungszentrum gewesen sei. Die Zusammenführung der Region wäre eine logische und zwingende Notwendigkeit.

Doch was ist schon logisch in diesem Krieg? „Wenn die demokratischen Staaten wirklich wollten“, so der Vizekommandeur der bosnischen Armee, Jovan Divjak, der selbst serbischer Bosnier ist und gegen die serbischen Nationalisten kämpft, „dann sprächen wir jetzt nicht über die Teilung der Stadt, sondern darüber, wie wir sie aufbauen können.“ Auch die serbische Bevölkerung werde auf die Dauer nicht damit zufrieden sein, zu einer russischen Sphäre zu gehören. „Die Wahl läge ja zwischen dem Rubel und dem Dollar.“ Die Amerikaner sollten schleunigst UNO-Truppen schicken: „Yankees, ihr seid willkommen in der Stadt.“

An der Brücke der „Brüderlichkeit und Einheit“ gibt es jetzt keine Schaulustigen mehr. Es ist nicht mehr möglich, zu ihr vorzudringen. Die Scharfschützen sind immer noch aktiv, bedeuten die bosnischen Posten. Und die alte Dame, die von „drüben“ kommt, versucht wie jeden Abend von ihrem halbzerstörten Flüchtlingsdomizil aus einen Blick auf ihr altes Haus zu werfen.

Der Autor ist Balkan-Korrespondent der taz