Arbeitsmarkt: Dienstleistungsgesellschaft im Osten

■ Kleinbetriebe liegen bundesweit bei Nachfrage nach Arbeitskräften ganz vorn

Nürnberg (taz) – Immer genauere Befunde, aber immer weniger Mittel, um Konsequenzen daraus zu ziehen – das ist das Problem der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit (BA). Mit den erstmals vorliegenden Daten zur Struktur der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in den neuen Bundesländern und repräsentativen Erkenntnissen zu Beschäftigungstrends in den alten Bundesländern bekommt die BA und das ihr angeschlossene Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) die hohe Arbeitslosigkeit wenigstens analytisch zusehend in den Griff. Das Sparprogramm der Bundesregierung engt jedoch den Spielraum für den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zunehmend ein. Ende Juni 1993 gab es in den neuen Ländern nach den jetzt vorliegenden Zahlen insgesamt 5,6 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das waren 322.000 weniger als ein Jahr zuvor. Der Abbau vollzog sich ohne regionale Besonderheiten, Frauen waren aber davon spürbar mehr betroffen als Männer.

Der Trend im Osten geht eindeutig in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft. So waren im verarbeitenden Gewerbe Mitte letzten Jahres gerade noch 1,13 Millionen versicherungspflichtig beschäftigt, ein Sechstel weniger als ein Jahr zuvor. Dies zeige, so BA-Präsident Jagoda, „wie sehr im Osten die industrielle Basis geschrumpft“ sei. Spitzenreiter der Abwärtsentwicklung waren dabei der Maschinenbau (-28 %) und die Chemie (-23 %). Das verarbeitende Gewerbe hat damit lediglich einen Anteil von 20 Prozent an allen Beschäftigten. Im Westen sind es 35 Prozent.

Im Dienstleistungsbereich sind dagegen 3,4 Millionen ArbeitnehmerInnen beschäftigt, nur drei Prozent weniger als im Vorjahr. Konjunktur haben dort vor allem die Rechtsberatung (+14,6 Prozent) und das Kredit- und Finanzierungsgewerbe.

Frohlocken und Aufatmen können die Arbeitsmarktstatistiker und -politiker lediglich beim Baugewerbe. Dies sei, so Jagoda, die „Lokomotive des Aufschwungs Ost“. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm dort um 11 Prozent zu.

Der Anteil des Baugewerbes an der Gesamtzahl der Beschäftigten liegt damit bei satten 13 Prozent (im Westen sieben Prozent).

Einen anderen Hoffnungsschimmer erspähen die IAB-Statistiker bei den Kleinbetrieben. Sie tragen in weitaus größerem Maße als Großbetriebe zur Bildung von neuen Arbeitsplätzen und zur Nachfrage nach Arbeitskräften bei. Dies ist Ergebnis einer zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Infratest durchgeführten repräsentativen Umfrage bei 4.500 westdeutschen Betrieben und Verwaltungen. Demnach erwartet die westdeutsche Wirtschaft von Mitte 1993 bis Mitte 1994 einen Beschäftigungsrückgang von zwei Prozent. Der Abbau von insgesamt 580.000 Arbeitsplätzen könne zwar, so Jagoda, durch Ruhestand, stille Reserve und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen abgefedert werden, im Jahresdurchschnitt 1994 werden aber wohl 3,8 Millionen Menschen arbeitslos sein.

Die Repräsentativumfrage ergab, daß der Beschäftigungseinbruch vor allem durch den Personalabbau in Großbetrieben verursacht wird. Betriebe mit mehr als 5.000 Beschäftigten wollen 1994 elf Prozent weniger Arbeitskräfte beschäftigen als Mitte 1992. Als „Hoffnungsträger der Beschäftigung“ bezeichnete Jagoda dagegen die Kleinbetriebe. Da diese aber bisher nur fünf Millionen von insgesamt 29 Millionen Arbeitsplätzen bieten, könnten die kleinen Betriebe trotz positiver Erwartungen den Beschäftigungsabbau der großen nicht auffangen.

Aus den Angaben der befragten Betriebe und Verwaltungen errechneten die IAB-Statistiker, daß der kurz- oder mittelfristige Arbeitskräftebedarf Mitte 1993 839.000 Personen betrug. Nur 45.000 davon entfielen auf Großbetriebe ab 500 Beschäftigten, dagegen 583.000 auf Kleinbetriebe unter zwanzig Beschäftigten.