Zwei Tote durch Kreuzbergs Mischung?

■ Giftcocktail unter einem Wohn- und Gewerbehaus in SO 36 / Behörden fühlten sich jahrelang nicht zuständig

In einer gemeinsamen Sitzung von Bau- und Umweltausschuß des Bezirks Kreuzberg befürworteten am Dienstag abend SPD, CDU und AL/Grüne einen neuen Ausschuß, der sich mit dem „Gifthaus“ Mariannenplatz 23/Wrangelstraße 4 befassen soll. Auch ein Projektbeirat aus Politikern, Gutachtern und Betroffenen soll entstehen, um die jahrelang verschlampte Beseitigung von Umwelt- und Gesundheitsgefahren in Gang zu bringen.

In den Hinterhäusern des Kreuzberger Grundstücks hatten eine Leiterplattenfabrik und ein Galvanikbetrieb höllische Schwermetallbelastungen hinterlassen. In einem Keller stand längere Zeit eine Brühe aus Chemikalien. Sie drang in das Mauerwerk ein, ebenso in den dort abgelagerten Bauschutt, den nur die Sondermülldeponie Schönberg bei Lübeck annehmen darf. Schwermetalle wurden auch im Staub auf dem Hof nachgewiesen, wo bisher Kinder spielten, ebenso in benachbarten Wohn- und Gewerberäumen. Dort lagen die Werte für Quecksilber und Arsen teilweise sogar höher als im Keller selbst, wie die Gutachterfirma ATD gemessen hat. Kupfer, Zink, Thallium, Blei, Cadmium und andere Stoffe fanden sich in den Proben.

Zwei Todesfälle durch Krebs bei HauswartInnen, die die verseuchten Räume regelmäßig gereinigt haben, werden den Altlasten zugeschrieben. Bei Per Lüke und Martin Dürschlag, zwei heute schwer erkrankten Mietern, wurden die Schwermetalle im Blut nachgewiesen. Die Ergebnisse der 22 kürzlich vorgenommenen Reihenuntersuchungen von Wohn- und GewerbemieterInnen wollte Gesundheitsstadtrat Gerhard Engelmann (CDU) auf der Sitzung nicht thematisieren: „Akuter Handlungsbedarf besteht in keinem Fall.“ Anträge auf Ersatzwohnungen würden aber entgegengenommen. – Aus den Reihen der anwesenden Betroffenen kam jedoch Protest an der Analysemethode auf. Lediglich auf Blei und Quecksilber waren die ProbandInnen – neben einem allgemeinen Blutbild – untersucht worden. Dies bewertete Per Lüke als „Augenwischerei. Ich habe bei anderen Stoffen sehr hohe Werte, bei Blei nicht. Bei mir wäre nach dieser Methode die Belastung nicht rausgekommen.“

Nachdem inzwischen zwei Keller polizeilich gesperrt wurden, sei die akute Gefahr des Luftaustauschs in die anderen Räume gebannt, meinte Ingenieur Dr. Beerbalk vom Gutachterbüro ITU. Ein halbes Jahr veranschlagte er für die Erstellung eines Sanierungsgutachtens. Daß darin der Abriß der Gebäude als billigste Möglichkeit ermittelt werde, mochte er „nicht ausschließen“.

Die Frage, welche Behörde die Gefahr hätte unterbinden müssen, sorgte bei der Anhörung für vielerlei Hinweise auf Zuständigkeitsänderungen, Personalmangel, aber auch für Schuldzuweisungen zwischen verschiedenen Ämtern von Bezirk und Senat. Schon 1990 hatte Lüke mit Beschwerden und einer Strafanzeige Behörden und Staatsanwaltschaft informiert. Auch wurden bei einer Begehung 1991 dem Bau- und dem Umweltamt Kreuzberg die Abwassergefährdungen durch eingeleitete Galvanikrückstände bekannt. Und: Bei einem Entsorgungsversuch im folgenden Jahr wurde ein Müllarbeiter durch die Dünste im Keller ohnmächtig.

Ein Vertreter der Senatsumweltverwaltung berief sich darauf, seine Abteilung, die die Information über das Gift im Keller erhalten hatte, sei nur für Grundwasserverunreinigungen zuständig. Auch Baustadträtin Erika Romberg (AL) sollte sich rechtfertigen, warum die Behörde nach der Behebung von kleineren baulichen Mängeln nicht weiter über die entdeckten Altlasten recherchiert habe. Sie trug ihre Sorge über „unsere Kreuzberger Mischung“ vor. Eine Altlastendiskussion hätte dieses Ideal einer räumlichen Verzahnung von Wohnen und Gewerbe politisch gefährdet, begründete sie die damalige Zurückhaltung. Matthias Fink