Der Gebrauch des Zufalls

Julia Roberts bleibt ihrem Image treu und feiert in „Die Akte“ von Alan J. Pakula ein Comeback  ■ Von Karl Wegmann

Julia Roberts wurde als Bordsteinschwalbe geboren. Als sie 1990 in „Pretty Woman“ eine Hure spielte, die Richard Gere oral befriedigen durfte und dafür von ihm mit Juwelen behängt wurde, war alle Welt hin und weg von der schönen Julia und ihrem großen Mund. Die Erde bebte, die Engel weinten – für Mr. Gere genauso wie für die Zuschauer.

Daß das Märchen von der naiven Prostituierten mit dem goldenen Herzen, die sich mal eben einen Milliardär angelt, ein durch und durch verlogener Witz war, interessierte niemanden. Die Mädels wollten alle so sein wie Julia mit ihrem Light-Food-Körper, und die Jungs waren fest davon überzeugt, daß die 23jährige auf der Leinwand das Aufregendste war, was sie je im vollbekleideten Zustand erlebt hatten.

Fans sind für einen Schauspieler (egal ob männlich oder weiblich) ungemein wichtig. Sie geben ihm das Gefühl, daß er nicht allein ist mit dem, was er über sich denkt. Das ist natürlich gefährlich – weniger für den Schauspieler als für seine Umgebung. Julia Roberts hatte plötzlich eine riesige weltweite Fangemeinde, und das tat ihr gar nicht gut. Sie machte noch drei schlechte Filme, bekam die verdienten miesen Kritiken und verschwand von der Bildfläche. Steven Spielberg schaffte es schließlich, sie mit einer Sieben-Millionen-Dollar-Gage als Tinkerbell (ihre beste Rolle) für „Hook“ zu verpflichten, und Robert Altman holte sie für einen Zwei-Minuten- Auftritt in seinen „Player“. Aber still wurde es nie um Julia, im Gegenteil.

Die internationale Boulevardpresse ließ sich, je weniger die Roberts zu sehen und zu hören war, immer neue Geschichten und Gerüchte einfallen. Eine miese Kindheit wurde ihr auf den Leib geschrieben, Depressionen, Psycho- Krisen und immer neue Liebhaber. So wurde ihr das Image eines kleinen, schüchternen, schutzsuchenden Mädchens verpaßt. Wenn sie sich einen Lover wie Liam Neeson schnappte und nach ein paar Monaten gegen einen anderen austauschte, hieß es gleich, sie wäre auf der Suche nach einem Ersatzvater – bei Sharon Stone wird das gleiche Verhalten als Selbstbewußtsein und Stärke interpretiert.

Jetzt ist der Kassenmagnet Julia Roberts also wieder auf der Leinwand zu sehen. In Alan J. Pakulas „Die Akte“ spielt sie die Hauptrolle.

Die Geschichte ist dünn: Zwei Bundesrichter werden ermordet. Eine Jura-Studentin macht eine kleine intellektuelle Fingerübung und schreibt ihre Theorie über das Warum und Weshalb – ein Treffer. Den Mördern wird mulmig, sie versuchen die clevere Kleine abzumurksen. Doch die Studentin ist besser und bringt, mit Hilfe eines noch besseren Reporters, die bösen Buben alle zur Strecke.

Um so ein flüchtiges Hirngespinst zu einem 500-Seiten-Roman aufzublasen, muß man schon John Grisham heißen. Mit einem ganz simplen Trick schafft er es, den Leser bei der Stange zu halten: Bis zum Schluß wird nicht verraten, was in dieser verfluchten Akte steht, die die Studentin Darby Shaw da angelegt hat. Das erzeugt Spannung, auf eine billige Art zwar, aber es funktioniert. „Die Akte“ („The Pelican Brief“) wurde ein Weltbestseller.

Regisseur Alan J. Pakula, bekannt und berühmt geworden durch „Klute“ und sein Watergate- Drama „Die Unbestechlichen“, tappte in die gleiche Falle wie zuvor sein Kollege Sydney Pollack, der den Grisham-Thriller „Die Firma“ adaptierte. Beide versuchten so nah wie möglich an der Romanvorlage zu bleiben und vergaßen, daß das Medium Film anderen Gesetzen folgt. Grisham zeichnet seine Akteure bewußt flach, sein vordringliches Anliegen ist Spannung. Keine Tiefe, keine Details, nur Handlung und Klischees. Im Roman geht das prima. Grishams Helden leben einzig in der ausfüllenden Phantasie des Lesers. Pakula, der auch mit am Drehbuch bastelte, fand „Die Akte“ „aufregend wie eine Achterbahnfahrt. John Grisham ist ein wundervoller Erzähler; es ist unmöglich, eines seiner Bücher vor dem Ende aus der Hand zu legen.“ Auf der Leinwand aber wirken Behauptungen und Andeutungen nicht, hier zählt Anschauung – aber die braucht Zeit, und die hat der Filmemacher nicht. Fünfhundert Seiten lassen sich nicht in normaler Spielfilmlänge erzählen. „Die Akte“ ist zwar knapp zweieinhalb Stunden lang, die Spannung des Romans erreicht Pakula jedoch nicht einmal andeutungsweise. Alle Schwächen der Vorlage sind (wie auch schon in „Die Firma“) überdeutlich zu sehen: Grishams konstruierter Plot, seine unglaubwürdigen Figuren, die dummen Dialoge und der inflationäre Gebrauch des Zufalls, der die Geschichte immer wieder vorantreiben muß. Wer den Roman gelesen hat wird schwer enttäuscht, wer La Roberts liebt nicht.

Julia Roberts wird zunächst als Geliebte ihres Professors, aber schon bald als verstörtes, ängstliches weibliches Wesen von finsteren Männern durch die Handlung gehetzt. Mit dieser Rollenwahl ist sie ihrem Kleinmädchen-Image treu geblieben. Und am Ende zeigt sie uns dann auch wieder ihren breiten Mund mit dem großen Lachen.

„Die Akte“ von Alan J. Pakula. Mit: Julia Roberts, Denzel Washington, Sam Shepard u.a. USA 1993, 141 Minuten.