Wenn die Angst wiederkehrt

Viele Flüchtlinge, vor Folter und Gefängnis aus ihrer Heimat nach Deutschland geflohen, werden hier erneut geschlagen und gedemütigt. Traumatische Ängste sind die Folge  ■ Aus Berlin Vera Gaserow

Manchmal reicht schon ein bestimmter Blick. Oder die Tonlage in der Stimme des Gegenübers. Dann überkommen ihn die Attacken von Panik, die er noch aus seiner Heimat Äthiopien kennt. Dann rast der Atem, und die Beine sind wie gelähmt. „Ich komme mir vor wie eine Ratte in der Enge, nur kann ich nicht zubeißen.“

Seit mehr als zehn Jahren lebt B. in Berlin. Deutschland war das Land, in dem er sich sicher fühlte vor den Folterungen in den Gefängnissen seiner Heimat. Hier suchte er Ruhe vor den schrecklichen Bildern. Hier fand er sogar eine Arbeitsstelle in einem Ausbildungsprojekt. B.s Ruhe wurde zerstört auf der Fahrt zum ersten Vorstellungsgespräch in Brandenburg. Drei Jugendliche pöbelten ihn in der S-Bahn an und versuchten, ihn aus dem fahrenden Zug zu stoßen. Seitdem sind sie wieder da, die alten Panikattacken. So stark, daß B. sich fortan weigert, mit der S-Bahn durch den Osten zu fahren. Die angebotene Arbeitsstelle mußte er deshalb ausschlagen. Das Sozialamt droht mit Entzug der Unterstützung wegen Arbeitsverweigerung.

N. aus Sri Lanka dachte lange Zeit, „Deutschland, das ist der Himmel“. Zwei Jahre war der tamilische Student in einem Lager der indischen Armee interniert und wurde dort regelmäßig gefoltert. Die gelungene Flucht nach Berlin versprach Sicherheit. Eine Psychotherapie half das Erlebte zu verkraften. An einem Abend im Dezember brach das Trauma wieder auf. Da randalierten 30 Jugendliche aus dem benachbarten Lehrlingsheim vor N.s Wohnung, einer Asylunterkunft im brandenburgischen Teltow. Die Jungens warfen Flaschen und Steine gegen das Haus. N. beobachtet, wie sie seinen afrikanischen Mitbewohner bedrängen, zwei seiner Freunde werden im Gesicht verletzt. N. passiert nichts, aber er gerät in Todesangst. Und die geht seitdem nicht weg, sobald er auf die Straße tritt, egal ob bei Tag oder Nacht. „In Sri Lanka wurde ich als Person verfolgt, hier, weil ich Ausländer bin, ganz allgemein. Jetzt ist die ganze Welt gegen mich.“

Die Deutsche Presseagentur vermeldet: „Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten ist 1993 gegenüber dem Vorjahr offenbar deutlich gesunken.“ M. aus Bangladesch führt seine eigene Statistik: Insgesamt viermal wurde er in der letzten Zeit überfallen, verprügelt, beworfen und angerempelt. Meist während seiner Arbeit als Zeitungsausträger in den frühen Morgenstunden. Keinen einzigen dieser Überfälle hat er bei der Polizei angezeigt. „Was bringt das schon. Ich habe ja keine Zeugen. Meine Schuld ist, daß ich Angehöriger einer Minderheit bin.“

Nicht angezeigte rassistische Angriffe gehen genausowenig in die Statistik ein wie der Faktor Angst. Ulrike Haupt, Mitarbeiterin im Büro der Berliner Ausländerbeauftragten, versucht deshalb, jenseits der offiziellen Statistik Fälle von ausländerfeindlicher Diskriminierung und Gewalt zu sammeln. Doch auch damit läßt sich die Dunkelziffer noch nicht ausleuchten. „Nur die wenigsten melden sich bei uns und noch weniger gehen zur Polizei.“ Zu einer Polizei, über die sich auf Ulrike Haupts Schreibtisch innerhalb eines Jahres immerhin zwölf glaubhafte Beschwerden wegen ausländerfeindlicher Übergriffe in Uniform gestapelt haben. Aus Mißtrauen gegen die Behörden, aber auch aus Angst aufzufallen, ziehen sich viele Opfer rassistischer Gewalt in sich selbst zurück. „Viele glauben“, weiß Ulrike Haupt, „daß sie durch Beschwerden alles nur noch schlimmer machen. Aber dann sitzen die Leute hier und weinen. Erst dann merkt man, wie verletzend der Angriff war, auch ohne blutige Schrammen.“

Im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer weiß man um diese seelischen Verletzungen. Seit mehr als einem Jahr bieten die Ärzte und Therapeuten des Zentrums Opfern von fremdenfeindlicher Gewalt ihre Hilfe an. Bei denen, die den Weg ins Behandlungszentrum finden, beobachten die Mitarbeiter nach rassistischen Überfällen fast immer ähnliche Symptome: Schlafstörungen, Depressionen, posttraumatische Angstzustände. Besonders gravierend sind die psychosomatischen Folgen bei denen, die aus ihrer Heimat vor der Gewalt geflüchtet sind und sich nun erneut hilflos ausgeliefert fühlen. So wie Y. aus dem Iran.

Fünf Jahre war der 32jährige in irakischer Kriegsgefangenschaft und wurde dort gefoltert. Nach seiner Freilassung mißhandelten ihn die iranischen Pasdaran, weil er während der Gefangenschaft seinen Glauben an Allah verloren hatte. Seit zwei Jahren lebt Y. in Berlin. Mit Hilfe des Behandlungszentrums für Folteropfer hatte er sich gerade von den Folgen der Haft psychisch erholt, als er abends im U-Bahn-Abteil von zwei Männern angepöbelt und körperlich drangsaliert wird. Zu Hause angekommen, sind Arme und Beine wie gelähmt. Am nächsten Tag tun ihm alle Gliedmaßen weh, wie nach den Folterungen im Iran, obwohl er jetzt gar keine Verletzungen hat. Auch dreieinhalb Monate später träumt er noch von dem nächtlichen Vorfall, der ihn auch in eine Identitätskrise als Mann gestürzt hat: „Ich schäme mich so, daß ich so hilflos war.“

Sepp Graessner, Arzt im Behandlungszentrum, könnte nach solchen Schilderungen seiner Patienten „die Wände hochgehen vor Wut. Kaum haben die Leute sich stabilisiert, passiert ihnen so etwas, und wir können wieder ganz von vorne anfangen.“ Von zirka 70 gefolterten Patienten, die Graessner in den vergangenen zwei Jahren behandelt hat, sind inzwischen neun in Deutschland Opfer von Gewalt geworden. „Ich kann den Leuten einfach kein Gefühl von Sicherheit mehr geben. An dieser Desillusionierung können einige richtig verrückt werden.“

Der von ihm betreute Herr O. aus Uganda kam gerade vom Einkaufen zurück, als ihm auf offener Straße ein völlig unbekannter Mann den Arm herumreißt und ein scharfes Messer quer über die Kopfhaut zieht. Mit klaffender Wunde bleibt O. auf der Straße liegen, keiner kümmert sich um den Blutenden, bis ihm endlich eine Frau auf die Beine hilft. Herr O. vergräbt sich mit seiner Verletzung im Bett, er will nur noch sterben. Es ist der zweite Überfall auf ihn innerhalb von zwei Monaten. „In diesem Land“, glaubt er, „wo die Menschen achtlos an mir vorübergehen, anstatt zu helfen, ist kein Platz mehr für mich.“ Dagegen kann Sepp Graessner gar nicht antherapieren. „Da kann ich nur noch Händchen halten.“ Zuhören, trösten und das Unrecht öffentlich machen, sehr viel mehr können die Helfer im Behandlungszentrum für die Opfer rassistischer Gewalt oft nicht tun.

Und im Einzelfall die nötigen, einfachsten Erleichterungen schaffen: Geld für den einzigen, nach der Tat blutverschmierten Pullover geben, aus dem Spendentopf die Wohnung eines Opfers renovieren lassen, um zumindest äußere Helligkeit zu schaffen, Tips geben für den risikolosesten Weg zur Arbeit.

Das ist nicht viel, aber mehr als gar nichts. Denn in den meisten Fällen werden die Opfer allein gelassen mit den körperlichen Verletzungen, den psychischen Traumata und der konkreten finanziellen Not, die ein solcher Überfall oft hinterläßt: mit Arbeitsunfähigkeit, Verdienstausfall, Krankenhauskosten, zerstörter Berufsperspektive, Demolierung oder Raub des einzigen Wertgegenstandes, den man sich zusammengespart hatte.

Seit Sommer letzten Jahres haben ausländische Opfer von Gewalttaten einen – wenn auch eingeschränkten – Anspruch auf minimale staatliche Entschädigung. Unter dem Eindruck der Morde von Solingen und Mölln hat der Bundestag das Opferentschädigungsgesetz novelliert, das bisher ausschließlich für Deutsche und EG-Bürger galt. Ausländer, die mehr als drei Jahre rechtmäßig in Deutschland gelebt haben, sollen nun nach dem neuen Gesetz Inländern gleichgestellt werden. Sie können, auch wenn bei der Tat kein Täter dingfest gemacht werden konnte, bei den Landesversorgungsämtern eine Übernahme der Krankenkosten beantragen, eine Wiedergutmachung des materiellen Schadens und der wirtschaftlichen Einbußen als Folge der Tat. Bei geminderter Erwerbstätigkeit steht ihnen auch eine Rente zu. Allerdings können diese Geldleistungen bei einer Abschiebung oder einer Rückkehr in die Heimat nicht transferiert werden. Dann zahlt der Staat nur eine einmalige Abfindung. Auch Ausländer, die zum Zeitpunkt der Tat noch nicht drei Jahre in Deutschland waren – und das betrifft die gefährdete Gruppe der Asylbewerber – erhalten bestenfalls eine einmalige Entschädigung. Bisher gibt es keine Zahlen, ob ausländische Opfer von Gewalt von diesem Gesetz überhaupt Gebrauch machen. Nur wenige dürften von dieser Möglichkeit wissen, und wenn, dann werden viele an den bürokratischen Hürden scheitern. Die sind selbst für Deutsche nur schwer zu überwinden, wie eine Umfrage des „Weißen Rings“ bei den Versorgungsämtern zeigt: Nur 11 Prozent der (deutschen) Gewaltopfer stellten überhaupt einen Antrag auf staatliche Entschädigung. Von diesen ohnehin wenigen Anträgen wurden 70 Prozent auch noch abgelehnt.

„Lückenhaft und mit heißer Nadel gestrickt“ nennt denn auch der „Weiße Ring“, der sich die Betreuung und Entschädigung von Gewaltopfern auf die Fahnen geschrieben hat, das neue Gesetz. Ausgerechnet die Organisation des umstrittenen XY-Fernsehfahnders Eduard Zimmermann kann für ihr Bemühen um die ausländischen Opfer von Gewalt ein Lob verbuchen. Schon seit Jahren macht sich der „Weiße Ring“ dafür stark, daß Ausländer und Deutsche bei der Entschädigung gleich behandelt werden. Spendengelder der Organisation kommen ohne Unterschied inländischen und ausländischen Opfern zugute: für Rechtsanwalts- und Gerichtskosten, für einen Erholungsaufenthalt, um das Trauma abzuschütteln, als finanzielle Unterstützung in wirtschaftlicher Not, als Wiedergutmachung für entstandenen Schaden. Bei der Berliner Ausländerbeauftragten erkennt man neidlos an, daß sich diese Organisation mit ihren ehrenamtlichen Helfern „oft viel intensiver um die Opfer und ihre Ansprüche kümmert, als wir es je könnten“.

Eine andere Hilfsorganisation ist währenddessen eher auf der Suche nach „Kundschaft“. Mit zahlreichen Prominenten im Gepäck, hat Ursula Kinkel, Gattin des amtierenden Außenministers, vor einem Jahr die „Aktion Cura“ gegründet, einen Verein zur „Hilfe für Opfer von Ausländerfeindlichkeit“. Doch auch nach einem Jahr ist der Promi-Club, zu dem unter anderen die Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen, Wolfgang Thierse, Friedbert Pflüger und Wolfgang Ullmann gehören, kaum mehr als eine gutgemeinte Kopfgeburt mit schwer erreichbarer Postadresse, dafür aber gutbestücktem Spendenkonto. 300.000 Mark Spenden hat „Aktion Cura“ im vergangenen Jahr eingenommen. Dank dieser Finanzmittel konnte der Verein in einigen Fällen tatsächlich Hilfe leisten. „Aber“, gesteht Schatzmeisterin Patricia Leßnerkraus ein, „die Opfersuche gestaltet sich sehr, sehr schwierig.“

An ihrer Zahl dürfte das leider nicht liegen. „Die Zahl der fremdenfeindlichen Straftaten“, so meldet das Bundeskriminalamt nach der jüngsten Statistik, „ist im Dezember wieder angestiegen.“

Behandlungszentrum für Folteropfer, Klinikum Westend, Haus 6, Spandauer Damm 130, 14050 Berlin

Aktion Cura, Hilfe für Opfer von Ausländerfeindlichkeit e. V., Postfach 120349, 53045 Bonn

Der Weiße Ring, Weberstraße 16, 55130 Mainz