■ Solidarität ist in der EU ein Fremdwort
: Brüssel, Jahrmarkt der Ehrlichkeit

Alle reden von der Krise, die Europäische Union feiert sie gemeinsam. Kaum vergeht da noch eine Woche, ohne daß die 12 Außenminister der Union nicht ein oder zwei Nächte zusammen verbringen. Bei Selters und Traubensaft geht es nicht immer fröhlich, aber doch meist recht laut und herzhaft zu. Kinkel schreit Mock an, Lamassoure den Kameraden aus Madrid, und auf den Abgesandten von der störrischen Insel sind sie ohnehin immer sauer. Eigentlich bräuchten sie die Neuen gar nicht, um sich herrlich in den Haaren zu liegen.

Ältere Journalisten-Kollegen erzählen in schillernden Farben, wie das früher war, als der Laden noch EWG hieß und regelmäßig über Solidarität philosophiert wurde. Das ist Geschichte, auch wenn die Idee noch immer nicht ganz ausgerottet ist. Zumindest fühlen sich einzelne Minister bemüßigt, wie vorgestern der griechische Europaminister Pangalos, ausdrücklich auf den vorbörslichen Tauschcharakter der europäischen Beziehungen hinzuweisen. Brüssel sei ein Marktplatz, auf dem Regierungen ihre Interessen austauschen. Brüssel sei nicht der Ort, wo die Meinungen der Bevölkerungen zusammenkämen.

Pangalos liegt im Trend. Angesichts der schlechten Presse bemühen sich die nach Europa geschickten Minister wenn schon nicht um mehr Demokratie, dann wenigstens um mehr Ehrlichkeit. Das Problem ist nur: Wenn oft genug und von allen Seiten wiederholt wird, daß sich die Grundstruktur der europäischen Idee mittlerweile auf ein rein geschäftsmäßiges Geben und Nehmen beschränkt, dann werden Kompromisse schwierig.

Warum sollte dann die spanische Regierung im Fall des norwegischen Fisches nachgeben? Spanien braucht Norwegen nicht, im Gegenteil: Das liberale Norwegen wird es Spanien schwieriger machen, in Brüssel weitere Gelder loszueisen oder Schutzzölle für die heimische Wirtschaft durchzusetzen. Man könnte geneigt sein, Spanien an die Solidarität seiner nördlichen Nachbarn zu erinnern. Doch die Europäische Union nennt den auf Drängen Spaniens eingerichteten Finanzausgleich von Nord nach Süd vornehm Kohäsionsfonds. Solidaritätsfonds klingt vermutlich zu mitleidig.

Ähnliches gilt auch für die britische Regierung, die mit ihrer Blockade den erreichten Integrationsgrad zurückschrauben will. London genießt seit Jahren mit Verweis auf seine beklagenswerte wirtschaftliche Situation einen Beitragsrabatt. Rabatt, das klingt so schön nach Großabnehmer.

Vielleicht sollte man den Verzicht des Solidaritätsgedankens konsequent zu Ende führen. Wenn die Europäische Union nichts weiter als ein Marktplatz überwiegend wirtschaftlicher Interessen ist, dann gibt es keinen Grund, warum sich die Mehrheit der Mitglieder nicht darauf einigen sollte, das eine oder andere Land auszuschließen – wenn's im Interesse der Mehrheit liegt. Alois Berger, Brüssel