„Dann werde ich die TibeterInnen befragen“

■ Angesichts wachsender Kritik an seiner Strategie der Gewaltlosigkeit hält der tibetische Dalai Lama eine „Neuorientierung unseres Befreiungskampfes“ für möglich

Berlin (taz) – Mit einer „Bestandsaufnahme“ seiner Bemühungen um eine Lösung für Tibet hat sich das geistliche Oberhaupt der TibeterInnen jetzt an die Öffentlichkeit gewandt. Der Dalai Lama war nach der blutigen Niederschlagung des tibetischen Aufstands vom 10. März 1959 – bei der 87.000 Menschen umkamen – mit Zehntausenden ins indische Exil geflüchtet. 1,2 Millionen TibeterInnen sind seitdem nach Angaben tibetischer Organisationen umgekommen.

Heute, 35 Jahre später, konstatiert der Dalai Lama, daß seine Hoffnung auf einen friedlichen Weg von Chinas Regierung mit unnachgiebiger Repression beantwortet wird. Unter TibeterInnen im In- und Ausland wächst die Kritik an der Strategie der Gewaltlosigkeit. Hier ein Auszug aus der Erklärung des Dalai Lama:

(...) Seit 14 Jahren habe ich nicht nur meine Bereitschaft erklärt, in Verhandlungen einzutreten, sondern habe auch mit einer Reihe von Initiativen und Vorschlägen weitgehendste Konzessionen gemacht; diese liegen klar innerhalb des Verhandlungsrahmens, wie er von Deng Xiaoping 1979 festgehalten wurde, nämlich daß „über alle übrigen Fragen außer Tibets Unabhängigkeit verhandelt werden könne“. (...)

Ich habe klar herausgestellt, daß sich die Verhandlungen auf folgendes konzentrieren müssen: auf Wege, Chinas Politik der Bevölkerungsumsiedlung zu beenden, die das tibetische Volk existentiell gefährdet; auf die Respektierung der grundlegenden Menschenrechte und der demokratischen Freiheit der Tibeter; auf die Entmilitarisierung und atomare Abrüstung Tibets; auf die Wiederherstellung der politischen Kontrollen durch das tibetische Volk bezüglich all seiner eigenen Angelegenheiten und den Schutz seiner natürlichen Umwelt. Überdies habe ich stets betont, daß jegliche Verhandlungen das ganze Tibet umfassen müssen und nicht nur das Gebiet, welches China als „autonome Region Tibet“ bezeichnet. (...)

Die chinesische Regierung hat meine Bemühungen um Annäherung eine nach der anderen abgelehnt und ständig versucht, die wahren Probleme zu verschleiern. (...) Ich muß jetzt zugeben, daß mein Vorgehen keinerlei Fortschritt gebracht hat, weder hinsichtlich ernst zu nehmender Verhandlungen noch einer allgemeinen Verbesserung der Lage in Tibet. Überdies bin ich mir der Tatsache bewußt, daß mein versöhnlicher Standpunkt, keine völlige Unabhängigkeit zu fordern, eine wachsende Anzahl Tibeter sowohl innerhalb als auch außerhalb von Tibet entmutigt hat. Aufgrund meiner Erklärung sind manche Tibeter zu der überzeugung gekommen, daß überhaupt keine Hoffnung mehr für das tibetische Volk besteht, jemals seine Grundrechte wiederzuerlangen. (...)

Wir mußten unsere Hoffnung auf internationale Unterstützung und Hilfe setzen, um sinnvolle Verhandlungen in Gang zu bringen, an denen ich nach wie vor festhalte. Wenn dies nun ebenfalls fehlschlägt, sehe ich mich nicht mehr imstande, mit gutem Gewissen diese Politik weiterzuverfolgen. Ich bin davon überzeugt, daß es dann meine Pflicht wäre, wie ich schon oft geäußert habe, mein Volk im Hinblick auf den künftigen Verlauf unseres Freiheitskampfes zu befragen. (...) Wie auch immer diese Befragung ausgehen sollte, sie wird uns als Richtlinie für unser künftiges Verhalten gegenüber China und für die Neuorientierung unseres Freiheitskampfes dienen. (...)

Die Tibet Initiative Deutschland will heute mit einer Mahnwache vor der chinesischen Botschaft in Bonn (17 bis 19 Uhr) und Veranstaltungen in verschiedenen Städten der Bundesrepublik an den Aufstand erinnern.