Von ferne grüßt Marcel

Ansätze ja, aber...: Theat-tüt-Werkschau im Hackeschen Hof-Theater  ■ Von Petra Brändle

Kleine Farbtöpfe knallen auf uns herab, gekochte Fussili und Muschelnudeln liegen bereits auf dem Boden, mit Soße. „Aber ich liebe euch doch.“ Ein Kind steht auf dem Balkon und hält eine Ansprache an das Oranienburger Straßenvolk. Und weiter prasseln die Farbtöpfe herab. Ein vertikales Bewegungstheater mit Sprachbeilage, im Vorübergehen überkam es uns. Was kann danach noch überraschen? Wo die Stadt zur Show wird, „Kabarettisten“ die U- Bahn bevölkern, „Opernsänger“ die Straße zur Bühne erheben und in jeder Kneipe ein „Aktionskünstler“ lauert, da wird es für das echte Theater schwer! „IS“ ist ein Beweis dafür.

„IS“, das Stück des Mimentheaterensembles Thea-tüt, ist geradezu eindimensional alltäglich im Vergleich zum richtigen Straßentheater. Die Augen starr auf ihre Bahnen, die Körper tun, wie ihnen befohlen. Sie bäumen sich auf, wirbeln, verlieren sich verloren im Raum und formieren sich im uniformen Schritt – vorzugsweise blind. Einsamkeit und Zwang, Monotonie und Chaos, das sind die Themen der Pantomime an sich, im Thea-tüt stets trefflichst untermalt von Klängen. Technisch (fast) alles in Ordnung. Und Marcel Marceau grüßt von fern mit den unvermeidlichen Seifenblasen. Und Luc Bondy hat recht, wenn er behauptet, die Pantomime sei nicht stumm, „sondern im Gegenteil geschwätzig“, da sie über den Körper das, was einfach gesagt werden könnte, übersteigert ausdrücken müsse (Theater heute, 3/94). Doch diese Überlegung tangiert die neunköpfige Gruppe kaum. Ihr Ansatz liegt bereits im Ursprung mit Bondys Überzeugungen über Kreuz: „Worte sind uns zu manifest und gleichzeitig auch zu mißverständlich. Gesten dagegen bieten einen Spielraum für die Phantasie“, so der Regisseur und Bühnenbildner Udo Klenner. „Wir denken mit dem Körper“, erklärt die Gruppe. Der Körper sei „der Text, den wir immer dabeihaben – und mit diesem spielen wir eben.“ Die derzeitig Werkschau in den Hackeschen Höfen ist nicht nur ein Rückblick auf die Arbeiten seit 1989/90, sondern auch ein Wendepunkt. Die Gruppe, bestehend aus einem Teil des einstigen Pantomimenensembles Prenzlauer Berg und einer Gruppe, die mit Modeshows auftrat, will sich personell und künstlerisch verändern. Nach über dreijähriger Zusammenarbeit heißt es hopp oder topp: Ausstieg oder Professionalisierung.

Wichtig scheint hier vor allem eine professionelle Konzeption. Denn bisher entstanden die Produktionen bewußt auf der Befindlichkeitsebene „so aus dem Bauch heraus“. Nach Einschätzung der Thea-tüt-Gruppe ist die Arbeit eines anderen Nachfolgers des Pantomimenensembles Prenzlauer Berg, des Orphtheaters nämlich, hingegen „eher kopfgeleitet“. Ein wesentlicher Unterschied der beiden Gruppen jedoch ist/war die finanzielle Ausstattung. Während sich das Thea-tüt mit einzelnen Projektförderungen durchschlug, konnte das Ensemble des Orphtheaters finanziell bis Ende '93 über ABM-Stellen abgesichert intensiver und ausschließlich am künstlerischen Ausdruck feilen. Ein großer und gut genutzter Vorteil, wie er künftig aus Sparzwang jedoch kaum mehr zu erwarten ist.

Auch die zweite Produktion des Thea-tüt. „Das vierte Gesicht“ (Regie: Roger Jahnke), offenbart trotz einiger guter Ansätze wieder, daß das Leben weitaus aufregender sein kann als eine Bühnenproduktion. Der Verlauf des etwas undurchsichtigen Tanzes um das Bett ist zu konstruiert, die Szenenübergänge hingegen kaum ausgearbeitet; meist bricht eine Handlung ohne innere Logik einfach nur ab. Schade auch, daß hier so unvermittelt Pantomime-Elemente auf Breakdance- und Modern-Dance- Bewegungen treffen, ohne aufeinander abgestimmt zu sein. Eine wirkliche Kommunikation der Körper findet so nicht statt.

Werkschau Thea-tüt in den nächsten Tagen: heute, 13. und 16.3., 21 Uhr: „Das vierte Gesicht“, Hackesches Hof-Theater, Rosenthaler Straße 40, Mitte.