■ China: „Bedrohungsszenarien“ und die wirkliche Gefahr
: Die Schrift an der Wand

Der „Große Vorsitzende Mao“ hatte gelehrt: Die Welt besteht immer aus Widersprüchen. Nach der Lösung des einen Widerspruchs steht der nächste schon vor der Tür. Jede Lösung gebiert aus sich heraus bereits den neuen Widerspruch. Wie in der Philosophie, so auch in der Politik.

Neuerdings findet der Vorsitzende Mao offenbar Anhänger in den USA. Von New York bis Berkeley machen sich Amerikas think tanks große Sorgen. „Realisten“ wie „Neorealisten“ unter der neuen Generation der Außenpolitik-Spezialisten sind auf der Suche nach einem neuen Gegner für die USA. Hat doch schon die Geschichte gezeigt: Kaum war der Krieg gegen Hitler beendet, entwickelte sich die Sowjetunion zum Hauptfeind. Wer wird nach dem Kollaps der Sowjetunion in Zukunft der neue Gegner der USA? Er ist schon im Visier: China.

Für die „Realisten“ liegen die Gründe auf der Hand:

1. China ist groß, jedenfalls größer als die USA. China hat unermeßliche Bodenschätze. Seine Bevölkerung wächst ständig, sein Wirtschaftswachstum ist seit Einführung des Kapitalismus so schnell, daß es in zwei Jahrzehnten die stärkste Wirtschaftsmacht nicht nur Asiens sein wird. Es besitzt daher alle Voraussetzungen, Supermacht zu werden. Atommacht ist es bereits.

2. China ist eine Diktatur. Im Falle militärischer Auseinandersetzungen braucht die politische Führung keine Rücksicht auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Und – auf längere Sicht ist nicht zu erwarten, daß sich China zu einer Demokratie hin entwickelt.

3. China verkörpert von seiner Geschichte, Sprache und Kultur her eine eigenständige Wertewelt. An die Stelle der Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus tritt nun, so zum Beispiel der Politikwissenschaftler Huntington, demnächst der Krieg der Weltkulturen. China hat eine Mission, keine maoistische mehr, aber doch die Überzeugung von der grundsätzlichen Überlegenheit des Reichs der Mitte gegenüber allen es umgebenden Staaten.

4. China ist kein verläßliches Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Es verfolgt, wie früher einmal das Deutsche Reich, eine nach allen Seiten unabhängige Außenpolitik und eine expansive dazu: gegenüber dem geschwächten Rußland wie gegenüber den asiatischen Nachbarn. Hätten diese keineswegs nur in den USA beheimateten Warner recht, so wäre das Mentekel an der Wand diesmal in chinesischen Schriftzeichen geschrieben.

Was tun? Als erstes, so die Meinung der „Realisten“, muß die Dezentralisierung Chinas gefördert werden. Wenn möglich sollte China in Teile zerfallen, in ein Konglomerat von Provinzen, die sowohl von Peking als auch voneinander unabhängig sind.

Taiwan mit seiner Wirtschaftskraft darf auf keinen Fall an China zurückfallen. Wenn schon Taiwan, dieses kleine Inselchen mit nur 20 Millionen Einwohnern, in der Lage war, die größten Devisenreserven der Welt zu erwirtschaften ... ein Alptraum! Den Gedanken sollte man angesichts der Verschuldung des amerikanischen Haushalts lieber nicht zu Ende denken.

Glücklicherweise beherrscht diese mechanische Sichtweise der „Realisten“ noch nicht die Köpfe der Politiker in Washington. Die Clinton-Administration, die bis zu ihrem Bosnien-Engagement etwas hilflos durchs Feld der internationalen Beziehungen stolperte, hat im Falle der VR China noch keine Konzeption entwickelt. Sie nörgelte bis zum Treffen zwischen Clinton und Jiang Zemin lediglich punktuell an einzelnen Aktionen der chinesischen Politik herum. Immerhin wurde bei dem Treffen deutlich, daß Clinton die VR China nicht in die Isolation treiben will.

Merkwürdig auch, daß die gleichen „Realisten“ im selben Atemzug verkünden, China werde irgendwann platzen wie eine volle Blase, weil es der innenpolitischen Probleme nicht mehr Herr werde. Auf internationalen Konferenzen erscheint der Zerfall der VR China schon beschlossene Sache. Selbst chinesische Analysen, in Peking für das Politbüro geschrieben, warnen ja eindringlichst vor dem Zerfall des Reiches. Das Militär scheint also bereits alle Hände voll zu tun haben, um die widerspenstigen Regionen niederzuhalten.

China also eine expansive Militärmacht? Wohl kaum. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sowenig wie ein alter sowjetischer Flugzeugträger, den China kaufen will, eine schlagkräftige Marine ergibt. Chinas alte U-Boote sind keine strategische Bedrohung, auch die Luftwaffe nicht. Zwar erwirbt diese derzeit 60 bis 70 SU 27 von Rußland, doch der Rest besteht aus etwa 5.000 alten MiG-19- und Q5-Kampfflugzeugen, die die meiste Zeit am Boden bleiben. Zwar versucht die VR China beschleunigt aufzurüsten, doch ihr fehlen die Devisen für den Kauf moderner Ausrüstungen. Vor allem: Bereits jetzt steht der Volksrepublik ein Vielfaches an moderner Waffentechnnik allein in Asien gegenüber.

Die Bedrohung durch China ist nicht militärischer Art. Sie liegt ganz woanders. Sie besteht in der Zerstörung der Lebensgrundlagen im Zuge einer schonungslosen Industrialisierung des Landes bei Propagierung derselben Konsumvorstellungen wie im Westen. China wird bei immer noch ungebremstem Bevölkerungswachstum in wenigen Jahren zu einem bevölkerungspolitischen und ökologischen Weltproblem ersten Ranges: Wer glaubt, daß sich die Industrialisierung in Europa und Amerika in den letzten zweihundert Jahren, deren katastrophale Folgen inzwischen überall auf dem Globus spürbar sind, in China in zwanzig, dreißig Jahren bei einer Vervielfachung des Energie- und Ressourcenverbrauchs wiederholen läßt, ohne daß es darüber zu einem ökologischen Kollaps kommt, der ist schlicht naiv.

Nach neuesten Daten ist die Luftverschmutzung chinesischer Städte zehn- bis zwanzigmal so hoch wie die amerikanischer Städte. Natürlichen Wald wird es im Jahr 2000 in China nicht mehr geben. Im Norden wird das Wasser knapp. Unzählige Reservoirs sind in den achtziger Jahren ausgetrocknet. Ein Drittel des Trinkwassers gilt als stark belastet. Doch das größte Problem ist der Verlust der Ackerfläche durch Erosion, Versteppung und Versiegelung. Pro Jahr verliert die Volksrepublik etwa 0,5 Prozent ihrer Anbaufläche. Nur durch den ständig erhöhten Einsatz von Stickstoffdünger konnte dieser Verlust bislang ausgeglichen werden. Doch Übernutzung und Mißbrauch von Dünger und Pestiziden beschleunigen inzwischen die Erosion. Und schließlich: Wenn China weiterhin auf Kohle als seinen Hauptenergieträger setzt, dann wird es in 15 Jahren mehr zur Verschmutzung der Atmosphäre beitragen als Europa und Amerika heute zusammen. Und die Bevölkerung wächst und wächst, aller Propaganda zum Trotz. Im Jahre 2000 werden es 1,4 bis 1,5 Milliarden sein. Wer sich daher bei der Industrialisierung Chinas über das ungebremste Wachstum freut und mit Chinas Markt die eigenen Volkswirtschaften retten will, der sollte daran denken, daß die Ökonomie Chinas kollabieren wird, wenn die Umwelt kaputtgeht.

Die eigentliche Bedrohung durch China liegt also nicht dort, wo die „Realisten“ sie vermuten. Die denken noch in den Kategorien des kalten Krieges. Aber mit Waffen wird man den Konsequenzen der Entwicklungen in China kaum begegnen können. Werner Meißner

Sinologe und Publizist, zur Zeit in Hongkong