Disse bleibt Disse

Keine Provokation: Iris Disse mit „Piraten der Stimme“ im Theater am Halleschen Ufer  ■ Von Anna-Bianca Krause

Die Vergangenheit verwässert die Gegenwart und will auch von der Zukunft nicht lassen. Banale Leidenschaften und emotionale Fehltritte werden im Rückblick zu dramatischen Geschehen, die Nacherzählung läßt die Realität weit hinter sich.

Auch Iris Disse hat sich mit ihrem neuen Stück „Piraten der Stimme“ zurückgelehnt, und sie alle, die Typologien der Männer ihres bisherigen Lebens, Revue passieren lassen. Erst steht sie minutenlang vor dem Publikum, dann wird sie von einem Tänzer mit drei Tangoschritten erlöst – der Weg ist frei für die sieben Etappen eines weiblichen Liebeslebens.

Annähernd zwei Stunden dauert dann der Parcours durchs Reich der „Männerwurzel“, der mit der großen Liebe zur kleinen Schwester einen tragischen Anfang nahm und in den Armen eines Kochs ein vorläufiges Happy-End findet. Die Musiker und Mitspieler – der afrikanische Percussionist Souleymane Touré als Lederrocker, der schweizerische Gitarrist und Maler Luigi Archetti als südlicher Neuzeit-Bonvivant in Turnschuhen und Anzug und David Höner als Dandy im Ringelhemd – geben bereits drei männliche Prototypen ab, nur Flötistin Franziska Baumann bleibt abseits dieser Klischeefiguren.

Iris Disse aber bleibt Iris Disse und verstrickt in einen unheilbaren Romantizismus. Bewaffnet mit der ihr eigenen Poesie singt sie sich durch Texte, in denen stets blutrot die Sonne untergeht und Männer immer nur das Eine wollen. Von Liebhaber zu Liebhaber wechselt sie Teile ihres Kostüms und ist mal mehr, mal weniger Opfer ihrer Auserwählten, aber durchweg zu verhalten und künstlich. Nie geht ihr Gurren, Säuseln oder Singen unter die Haut. Ihre oberflächlichen Wandlungen, von der Hippiefrau zur Discoqueen und Kriegerbraut, sind bloß ein äußerst baufälliges Gerippe für ein Stück, das weder inhaltlich noch ästhetisch einen Zusammenhang hat.

Daran kann auch die musikalische Begleitspur, die zwischen den Beziehungsepisoden die Oberhand gewinnt, nichts ändern. Die zu einem Klanglabor umgewandelte Bühne ist eine Landschaft aus silbernen Säulentorsi, gespannten Seilen und Saiten, Messingschüsseln aller Größen und vielem mehr, das die vier MusikerInnen unentwegt benutzen, bespielen.

Neben den Instrumenten, E-Gitarre, Schlagzeug, Querflöte, Didjeridoo, Talking Drum, werden mit unzähligen Gerätschaften und Materialien Sounds erzeugt, und besonders David Höner als Koch läßt keine Möglichkeit aus, in seiner Küche Geräusche zu brauen. Wenn er sich mit einer Lauchstange in die Rhythmussektion einklinkt, seine seltsamen Seilschaften bedient oder auf in einem Wassertrog befindlichen Holzschalen trommelt und nebenbei noch eine Minestrone kocht, blitzen kleine Höhepunkte auf. Der Rest der Musik, komponiert von Archetti und Baumann, ist Jazz- Rock der normalsten Art, eine Reminiszenz an die Siebziger und ein ebensolcher Blick in den Rückspiegel wie das gesamte Stück.

Iris Disses Sprechgesang, der nur ab und an vokale Seitensprünge macht, erinnert interpretatorisch und inhaltlich immer wieder an die Plattheiten der Neuen Deutschen Welle. Wenn sie singt „Bleib bei mir, schöner junger Mann“, könnte Andy Giorbino feixend im Eck stehen, bei „Ich muß nicht nett, adrett, stumm, keusch, niedlich sein – und trotzdem sind sie alle mein“ liegt die Stimmung von frühen Schlagerfrechheiten à la „Ich will keine Schokolade“ im Raum.

Warum diese Reise zum Mittelpunkt einer Frau ausgerechnet „Piraten der Stimme“ heißt, bleibt Disses Geheimnis. Von vokalen Provokationen war sie jedenfalls weit entfernt. Wie eine etwas verwirrte Alice im Wunderland irrt die schauspielernde Sängerin kurz vor dem Finale im wehmütigen Schnarren, Klingeln, Klopfen, Blöken, Trommeln, Krischen, Wimmern der Tonerzeuger herum und kommt immer wieder zu ihrem Lieblingswort zurück. „Es schneit Blut“ reiht sich an einen Liebesakt, in dem „tausend Tropfen gefrorenen Bluts bersten“, und dem Publikum blutet das Herz ob der langweiligen Trivialität der Aufführung.

Noch heute und morgen sowie vom 16. bis 19.3., 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg. Jeweils um 22 Uhr folgt das Stück „Deux“ von Etienne Grafenried.