Doppelwesen der Aufklärung

Beklemmend, aber auch von eigener Schönheit: Die pathologisch-anatomische Sammlung in der Charité  ■ Von Petra Brändle

Vor ihnen relativiert sich alles. Die Last des Lebens, das alltägliche Kneifen und Ziehen des Körpers, sein Protest gegen die rücksichtslose Lebensgeschwindigkeit erscheint gering und bedeutungslos. In der ersten Beklemmung möchte man sich schaudernd abwenden, doch die kleinen Körper fesseln den Blick, offenbaren nachdrücklich ihre eigentümliche Schönheit.

900 Exponate, Präparate, Schauobjekte, Anschauungsexemplare oder auch einfach nur Lehrmaterial „an sich“ umfaßt die Schausammlung, zur gesamten pathologisch-anatomischen Sammlung gehören 9.000 Glasgefäße und Skeletteile. Die „Exponate“, die unter anderem in der ehemaligen Begräbniskapelle der Charité in Gläsern, Gräbern gleich, untergebracht sind, sind die sterblichen Überreste von Menschen. 9.000 Menschen. Menschen mit Krankheiten, die es heute teilweise nicht mehr gibt und mit Gebrechen, wie sie heute nicht mehr zu sehen sind.

Stumm steht man vor diesen Wesen, die früher so ungeniert „Monstren“ genannt wurden. Staunend entdeckt man ihre tiefe Ruhe, manchmal scheint es gar, als lächelten sie. Monster! Zyklopen, Sirenen und janusköpfige Zwillingsgeburten. Sie haben ein Auge nur, mitten auf der Stirn sind die beiden Augäpfel verschmolzen zu einem; ein Kopf, zwei Gesichter, vorne und hinten, zwei Körper; statt Beinen ein fischschwanzähnlicher Stummel. Diese kleinen Wesen in den Glasgefäßen sind Zeugnisse menschlicher Existenz und Zeugen menschlicher Kulturgeschichte. Sie gehören mit zum Leben und demonstrieren durch ihre Abwesenheit, in ihrer Ausgeschlossenheit unsere Verdrängungskunst – und in Zeiten der medizinischen Früherkennung unser Verlangen nach einer zunehmend cleanen, geschönten und normierten Welt. Im Fortschritt selbst steckt die Reduktion. Die Zivilisation gebar die Haßliebe zum Körper. Wie kaum ein anderes Museum offenbart diese Sammlung der Charité, einzigartig in Deutschland, dieses Doppelwesen der Aufklärung.

Auf metaphorischer Ebene indes wurde in längst vergangener Zeit aus dem monströsen Wunder ein Ungeheuer. Ursprünglich hatte die lateinische Wurzel von „Monestrum“, „monere“, mehrere Bedeutungen, die von „vorweisen“ über „anklagen“, „androhen“ und „prophezeien“ bis zu „bewundern“ reichten. Allein der Name der Lehre von den Mißbildungen, griechischstämmig „Teratologie“ benannt, verweist noch auf das „Wunder“. Diese Wunder hatten im Altertum ihren Platz im Tempel, wo sie von den Priestern – als Zeichen ihrer gottgegebenen Macht und Allwissenheit – verwahrt und vom Volk verehrt wurden. Die Gottesfürchtigkeit, im Wesen bereits doppeldeutig, galt oft ebenso ambivalent erscheinenden Göttern oder mythologischen Gestalten. Janus beispielsweise, der römische Gott des Krieges und Friedens – scheint er nicht seinen Ursprung in den zusammengewachsenen Zwillingen zu haben? Doch aus den „Monstren“ wurden Mißbildungen – sie waren nur ungeheuer „falsch“; heute nennt man sie sachlich nüchtern und fachlich korrekt Fehlbildungen oder Mutationen, hinter Glas sind es nur: Präparate. Das Monster-Wunder verschwand aus dem Sprachgebrauch. Aus den Göttern wurde ein gütiger Gott (bevor er ganz starb), und so wurde auch, jenseits der Mythologie, aus dem Gewöhnlichen und Alltäglichen das verborgene „Heimliche“, schließlich gar, nach Freuds Verdrängungstheorie, das „Unheimliche“.

Das „Theatrum Anatomicum“, die erste, 1713 gegründete Sammlung pathologischer Präparate, spricht noch von der Schaulust. Doch die Nähe zum kulturellen Ereignis wurde ab 1724 mit der Bezeichnung „Collegium medico-chirurgicum“ verwissenschaftlicht. Die reine Lehre auf pathologischem Gebiet forcierte ab 1844 jedoch erst Rudolf Virchow (1821-1902). Einerseits war er ein genialer und verantwortlicher Wissenschaftler, der beispielsweise aus seinen Untersuchungen der Hungertyphusepidemie 1848 in Schlesien politische Konsequenzen folgen ließ, andererseits war er, wie die Medizin generell, Wegbereiter des funktionalisierten Körpers. Virchow, der ab 1861 auch Abgeordneter im Preußischen Landtag war, weitete die Sammlung auf 23.600 Exponate aus und ließ ihnen eigens und in ausgesuchter Lage ein Museumsgebäude errichten.

Pathologisch-anatomische Sammlung im Institut für Pathologie, auf dem Gelände der Alten Charité, Eingang: Schumannstraße 20/21, Ecke Charitéstraße, Öffnungszeiten: werktags von 14 bis 16 Uhr.