Wenn die Rotznasen krächzen

■ Eine Welle fieberhafter Erkrankungen schwappt über Berlins Kinder / Eltern schicken ihre Sprößlinge oft ungenesen wieder in die Kitas - und fördern somit Dauererkältungen

Die Erzieherinnen im Spandauer Kinderladen trauten ihren Augen nicht. Als sie eines Morgens in die Runde der versammelten Kinder blickten, mußten sie feststellen, daß drei Viertel der Kleinen fehlten. Ein Virus war der unsichtbare Übeltäter, der den Kindern Erbrechen, Fieber und Schnupfen bescherte. Bald konnten auch Eltern und Erzieherinnen das Bett nicht mehr verlassen. „So schlimm war es bei uns noch nie“, sagt eine der Erzieherinnen. Wenn sich ein Virus erst mal im Kinderladen eingenistet hat, ist kaum einer vor der Ansteckung sicher.

Die Welle der fieberhaften Infekte, die in den letzten Wochen über Berliner Kinder hinwegschwappte, ist nicht außergewöhnlich. „Infektionskrankheiten treten immer in Zyklen auf. In den Wintermonaten natürlich verstärkt“, sagt Rolf Götte, Chefarzt im Christophorus Kinderkrankenhaus. Die Temperaturschwankungen in den letzten Wochen, der Regen und die fehlende Sonne begünstigten die Erkältungswelle. Bei einem Kleinkind seien acht bis zehn Infekte im Jahr normal.

Die kleinen Menschen mit ihrem noch schwachen Immunsystem müssen sich mit allen Erregern aus der Umwelt selbst auseinandersetzen. Wenn viele Menschen auf begrenztem Raum aufeinanderstoßen, wie es auf Kindergärten zutrifft, ist die Gefahr einer Ansteckung höher. Im Winter steigt sie noch zusätzlich, da die Kinder vorwiegend drinnen spielen. Wenn ein Kind aus einer kleinen Familie neu im Kindergarten ist, erkrankt es häufiger als Kinder aus großen Familien. Der Sproß einer Großfamilie war in seinem jungen Leben bereits mit allerlei Erregern konfrontiert und ist deshalb abgehärteter.

Statistiken über die Zahl der Infekte bei Kindern gibt es nicht. Kinderärzte können nur aus Erfahrungen in ihrer eigenen Praxis sprechen. An der Infektwelle ist nach Ansicht der Ärzte kein neuer oder besonders gefährlicher Virus schuld. Überwacht wird hingegen die Zahl der Influenzaerkrankungen, besser unter dem Namen Grippe bekannt. „Die Influenza ist in den letzten Jahren rückläufig“, sagt Werner Lange vom Influenzazentrum des Robert-Koch-Instituts. Influenza kann sogar mit dem Tod des Patienten enden.

Kinder überstehen solche Erkrankungen meist leichter als alte Menschen. In der Regel wissen die Institute sehr genau, welche Grippeviren für den Winter zu erwarten sind und können entsprechende Impfstoffe herstellen. Alle 15 bis 20 Jahre taucht jedoch irgendwo in der Welt ein neuer Subtyp von Virus auf, der sich innerhalb von Monaten in der ganzen Welt ausbreitet. Zu schnell, als daß die Labors einen Impfstoff entwickeln könnten. Die bislang letzte Pandemie verursachte 1969/70 der sogenannte Hongkong-Virus. Damals starben allein in den USA 20.000 Menschen.

Krächzende Stimmen und schniefende Nasen gehören für die Erzieherinnen eines Kreuzberger Kindergartens zum Winteralltag. „Bei uns haben fast alle Kinder Husten, aber das ist doch normal für Kreuzberger Kinder“, sagt eine der Erzieherinnen. Eine Schöneberger Kinderärztin, die anonym bleiben möchte, findet das nicht normal. „Die Kinder in der Stadt sind oft wochenlang erkältet. Sobald sie jedoch einige Zeit auf dem Land verbracht haben, ist es schnell vorbei mit der Dauerrotznase“, sagt die Ärztin. Man könne zwar nicht sagen, daß die verschmutzte Umwelt in Berlin die Zahl der Infektionen pro Jahr erhöhe. Wohl aber beeinflusse sie die Schwere der Erkrankung und verzögere deren Heilung. Die Zahl der chronischen Atemwegserkrankungen, wie beispielsweise Bronchitis, habe nach ihren Erfahrungen indes eindeutig zugenommen.

Die schlechte Großstadtluft ist nicht der einzige Grund für die Dauererkältungen der Kinder. „Ob sich ein Mensch mit einer Krankheit anstecket, hängt von seinem Allgemeinbefinden ab“, sagt die Kinderärztin. Kinder, die häufig müde und lustlos wirkten, seien anfälliger für Krankheiten. Berlin sei eine laute und hektische Stadt mit wenig Grünflächen, in der die Kinder kaum Möglichkeiten hätten, sich alleine im Freien zu bewegen. Häufig fehle den Kindern auch die nötige Zuneigung, wenn sie krank sind. „Die Kinder können oft gar nicht vollkommen genesen, weil die berufstätigen Eltern sie zu früh wieder in den Kindergarten bringen“, sagt die Ärztin. Die Folge ist eine Dauererkältung. Kinder sollten nach einem Infekt mindestens zwei Tage fieberfrei sein, bevor sie in den Kita- Alltag zurückkehren. „Doch der Trend geht dahin, alles schnell zu erledigen“, sagt die Ärztin, „die Leidtragenden sind die Kinder.“ Annabel Wahba