: Das Rätsel des unhörbaren Knalls
Jan-Fabre-Gastspiel im Hebbel-Theater: Els Deceukelier in „Vervalsing zoals...“ ■ Von Ulrich Clewing
Zu Anfang liegt sie da wie Schneewittchen im Glassarg. Doch diese Prinzessin braucht keinen Prinzen mehr. Sie wacht auch von alleine auf. Und beginnt, ihre Leidensgeschichte zu erzählen.
Sie knurrt, flucht, flüstert, sie schreit ihren Ekel heraus, ist leise, böse, verzweifelt und ordinär wie ihr großer, grellrot geschminkter Mund. Manchmal preßt sie die Worte heraus, als wollte sie sie zwischen ihren Lippen zerquetschen, dann erinnert sie sich an ein Kinderlied, singt es. Aber die Unschuld ist längst verloren.
Die schöne Frau ist am Ende. Sie hat Liebe gesucht und wurde nur benutzt. Ein hellblondes Künstlermodell im schäbigen Morgenmantel, das anderen so lange als Muse gedient hat, bis von ihr nur ein Schatten übriggeblieben ist. „Fälschung, wie sie ist, unverfälscht“ heißt das Solo, das der belgische Künstler und Theaterregisseur Jan Fabre für seine Lieblingsschauspielerin Els Deceukelier unter Verwendung von Gesprächsfetzen aus Interviews mit Félicien Rops, Marcel Broodthaers und René Magritte geschrieben und inszeniert hat. Die achtzigminütige Produktion des Brüsseler Kaaitheaters, die dort schon 1992 uraufgeführt wurde, gastierte jetzt für drei Abende im Hebbel-Theater.
Auch wenn man von dieser Litanei auf niederländisch nur einzelne Bruchstücke versteht, so viel ist klar: Hier kotzt sich jemand aus und schleudert seine zerfledderte Existenz ungebremst ins Publikum. Ausgebrannt, zerfressen von der Enttäuschung, vom Leben und vom Haß, drogensüchtig und permanent alkoholisiert, hievt sich Deceukelier von einer geräuschvoll gezogenen Linie Koks zur nächsten. Dann wieder bewegt sie sich langsam wie in einem Traum, schaut ungläubig und fassungslos ins Parkett. Sie wird still, und es kann beklemmend still sein in einem Theater.
Schweigsamer Zeuge ihrer Hysterie ist ein schwarzbefrackter Musiker, der in einer Ecke auf seinem Arsch sitzt und in debilem Gleichmut seine Trompete poliert. Fabres vielgerühmter und ebenso oft gescholtener Ästhetizismus ist in „Fälschung...“ auf einige wenige Elemente reduziert: die nachtschwarze Bühne am Anfang; ein Lichtreflex des Koks-Spiegels an der Wand; die sanften Übergänge der Beleuchtung; das muschelförmige Ornament, das entsteht, als Deceukelier den weißen Seidenvorhang wegzieht, der über den aufgebauten Guckkasten gelegt ist.
Ansonsten gehört Deceukelier die Bühne ganz allein. Sie robbt auf allen vieren nach vorne an die Rampe, deliriert, dem Zusammenbruch nahe. Man sieht ihr zu wie einem wilden Tier im Zoo, ein bißchen unangenehm berührt, ein bißchen ängstlich, sie könnte nun die Distanz zum Publikum endgültig überwinden.
Als „Vervalsing zoals ze is, onvervalst“, so der Originaltitel des Stücks, im vergangenen Herbst am Frankfurter Theater am Turm zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wurde, machte sich Enttäuschung breit unter den eingefleischten Fabre-Fans. Der 35jährige Belgier habe die hervorstechendste Qualität seiner früheren Inszenierungen aufgegeben, den Anti-Naturalismus von „Die Macht der theatralischen Torheiten“, „Der Palast um vier Uhr morgens...A.G.“ oder von „Das Interview, das stirbt“ zu Gunsten eines traditionellen, psychologisierenden Kabinettstückchens à la Tennessee Williams verraten.
Am Schluß aber ist man Fabre dann doch wieder auf den Leim gegangen. Der Trompeter, der bis dahin außer drei virtuosen Soli nichts von sich gegeben hat, steht auf, dreht sich frontal zu den Zuschauern und schaut eine Weile ruhig ins Publikum. Und plötzlich, in einem kurzen, rätselhaften Moment sackt die ganze angestaute Spannung mit einem unhörbaren Knall in sich zusammen. Der Musiker raucht eine Zigarette, Deceukelier auch, sie lächeln sich ganz unverhohlen an – und gehen. Die Masken sind gefallen und alle, alle haben's gesehen.
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