■ Heute Prozeß gegen Zyankalidealer Atrott: Wohltäter oder Krimineller?
Augsburg (taz) – Mehr als 30 dicke Aktenordner über den einstigen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), Hans Henning Atrott, türmen sich im Amtszimmer von Richter Hartmut Klotz. Dem Vorsitzenden der 1. Strafkammer war bis vor kurzem noch vor dem ins Haus stehenden Mammutprozeß angst und bange. Doch dann kam im Februar über Atrotts Anwälte die überraschende Ankündigung, ihr Mandant wolle ein Teilgeständnis ablegen. Seither gehen Gericht und Staatsanwaltschaft davon aus, daß der „Zyankaliprozeß“ ohne Anhörung von Zeugen in voraussichtlich einem Tag (heute) erledigt sein könnte. Dem Fünfzigjährigen wird also in Augsburg ein kurzer Prozeß gemacht, vorausgesetzt, es bleibt tatsächlich beim Geständnis. Doch genau das ist die Frage. Denn zwischenzeitlich hat Atrott in einer Presseerklärung alles als eine „üble Desinformationskampagne der Justiz“ bezeichnet. Richter Klotz läßt dieses Verwirrspiel kalt. Am Freitag bestätigte er noch einmal, daß es wohl beim Geständnis bleiben wird. Atrotts Anwalt Steffen Ufer habe sogar angekündigt, daß noch vor der Verhandlung ein schriftliches Geständnis gefaxt würde.
Hans Henning Atrott wird beschuldigt, in 131 Fällen durch illegalen Zyankalihandel gegen das Chemikaliengesetz verstoßen und Steuern hinterzogen zu haben. In mindestens zehn Fällen sind Erwerber von Zyankalipräparaten ums Leben gekommen. Der Angeklagte bestreitet, so oft Zyankali an Sterbewillige abgegeben zu haben. Mehrere Fälle von Steuerhinterziehung gibt Atrott allerdings zu. Er begründet dies mit einer notwendigen Geheimhaltung. Er habe die Steuern hinterziehen müssen, um überhaupt Sterbehilfe leisten zu können.
Ende Januar 1993 war Hans Henning Atrott in eine Polizeifalle getappt. Bei einem fingierten Zyankaligeschäft in einem Hamburger Hotel wurde er verhaftet. Kurze Zeit später wurde sein Zweitwohnsitz im schweizerischen Kreuzlingen von zehn Beamten der Kripo Bielefeld und des Kommissariats 11 der Augsburger Kriminalpolizei gefilzt. Anlaß für die Razzia und Verhaftung waren schwerwiegende Verdachtsmomente. Atrott wurde vorgeworfen, einem unter panischer Aids-Angst leidenden Notar zwei Zyankalikapseln für 7.000 Mark verkauft zu haben. Im Sommer 1991 hatte der Mann sich damit das Leben genommen. Gegen 400.000 Mark Kaution kam Atrott im Dezember dann wieder frei. Er mußte allerdings wegen Fluchtgefahr seinen Paß abgeben.
Während der Haftzeit hatte er sich zunächst hartnäckig geweigert, „Lösegeld zu zahlen“. Polizei und Justiz wurden von ihm ebenso beschimpft wie die neue Führung der DGHS, die er als „Vereinsdiebe“ bezeichnete, die sich „ein Millionenvermögen unter die Nägel reißen wollen“. Er kündigte an, seinen illegalen Nachfolgern in der DGHS das Handwerk legen zu wollen. Völlig unerwartet hatte Atrott im Februar dann eine Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben besucht und nachhaltig gestört. Vom DGHS-Geschäftsführer handelte der einstige Präsident sich dann sogar ein Hausverbot ein.
Ein gutes Vierteljahr nach der Verhaftung Atrotts hatte die DGHS eine umstrittene Selbstmord-Fibel aus dem Verkehr gezogen. Die Fälle hatten sich gehäuft, daß Anwender nach Einnahme der empfohlenen Medikamentendosis mit körperlichen und seelischen Schäden die geplante Selbsttötung überlebten. Die DGHS selbst hat nach den serienweisen Negativschlagzeilen kräftig Mitglieder verloren. Von den einstmals 60.000 sind dennoch 44.000 übriggeblieben. Klaus Wittmann
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