USA auf dem Weg zum Billiglohnland

1,7 Millionen Arbeitsplätze sind 1993 in den USA neu entstanden – aber die Realeinkommen sinken stetig Heute beginnt in Detroit die Arbeitsplatz-Konferenz der G-7-Staaten  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Für rezessionsgeplagte EuropäerInnen klingen die Zahlen wie aus dem Schlaraffenland: In den USA liegt die Arbeitslosenquote bei 6,5 Prozent, Tendenz sinkend; das Bruttoinlandsprodukt wuchs im letzten Quartal 1993 um 5,9 Prozent; die Produktivitätsrate steigt ebenfalls, die Inflationsrate ist unter Kontrolle und die US-Autoindustrie macht endlich wieder positive Schlagzeilen. Und mit Bill Clintons 1,5 Billionen Dollar- Haushaltsplan für 1995 wird, sollte ihn der Kongreß verabschieden, das Defizit nun schon zum dritten Mal in Folge geringer sein als im Vorjahr – das hat es seit 1948 nicht mehr gegeben.

Mit diesen Zahlen jonglierend, kann der US-Präsident heute recht gelassen den sogenannten Arbeitsplatz-Gipfel in Detroit eröffnen – jene von ihm vorgeschlagene Veranstaltung, auf der RegierungsvertreterInnen der G-7-Länder und der EU-Staaten darüber beraten wollen, wie man das weltweite Problem der „hartnäckig hohen Arbeitslosigkeit“ bekämpfen soll. 30 Millionen Arbeitslose gibt es inzwischen in diesen Ländern, davon allein 19,1 Millionen in Europa und knapp 8,5 Millionen in den USA.

Vor allzugroßen Erwartungen, die bei solchen Ereignissen ohnehin keiner mehr hat, möchten sich die VeranstalterInnen allerdings schützen. Dies sei kein „Gipfeltreffen“, sondern eine Konferenz, auf der man „voneinander lernen“ wolle. Im transatlantischen Streit um die richtigen Rezepte fühlen sich derzeit konservative amerikanische ÖkonomInnen ganz obenauf. Die Arbeitsmarktkrise, schrieb Wirtschaftsexperte Robert Samuelson in der Washington Post, sei keine globale, sondern eine europäische. Da aber die USA von den europäischen Nationen nichts lernen könnten und die Europäer wiederum amerikanische Heilmittel wie Stärkung des Privatsektors, Lohnsenkungen und Abbau von Sozialleistungen aus politischen Gründen ablehnen, sei der Gipfel „reine Zeitverschwendung“.

Andere sehen keinen Grund zu Triumphgefühlen gegenüber dem alten Kontinent. Erstens, so der Ökonom Lester Thurow vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), „ist es ein sehr langsamer Aufschwung“, der sich auf dem Arbeitsmarkt ebenso langsam bemerkbar macht. Zwar sind in den USA im letzten Jahr 1,7 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. Doch diese Zahl nimmt sich gering aus zu jenen vier Millionen Jobs, die im ersten Jahr nach der Rezession 1982 entstanden sind. Zweitens sagen solche Statistiken noch nichts über die Lohnentwicklung aus. „Die USA“, konstatiert Larry Mishel vom Economic Policy Institute (EPI), seien das einzige westliche Industrieland mit stetig sinkendem Reallohneinkommen. Am härtesten sind von dieser Entwicklung afroamerikanische Männer mit High-School-, aber ohne Universitätsabschluß betroffen, die zwischen 1979 und 1993 durchschnittlich Reallohneinbußen in Höhe von 28 Prozent hinnehmen mußten. Weiße Männer mit gleicher Schulbildung verdienen heute rund 21 Prozent weniger, schwarze Frauen 18 Prozent und weiße Frauen rund 5 Prozent weniger. Dies, sagt Mishel, sei kein Phänomen der achtziger Jahre, dieser Trend werde sich fortsetzen.

Die Gründe sind vielfältig. Da ist zum einen der Arbeitsplatzabbau im Produktionssektor, in dem zwischen 1979 und 1992 rund drei Millionen relativ gut bezahlte Jobs wegrationalisiert, ins Ausland verlagert oder einfach nicht mehr besetzt wurden. Da ist der gehobene Dienstleistungssektor, in dem Geldautomaten und Computertransfers Angestellte im Banken- und Versicherungswesen „überflüssig“ machen. Und da ist das Problem des Gesundheitssystems: Unter anderem, weil die Krankenversicherung für ihre Angestellten zu teuer ist, sind immer mehr kleine und mittlere Betriebe dazu übergegangen, Teilzeitkräfte anzuheuern oder Zeitverträge auszugeben.

Rund die Hälfte aller Arbeitsplätze, die in den USA seit Ende der Rezession geschaffen wurden, sind nach Berechnungen des EPI entweder Teilzeitjobs oder zeitlich befristet. „Jobs? Davon haben wir vier“, erklärte sarkastisch ein Familienvater in einer Suburb in Kansas einem New York Times- Reporter. Als Flugzeugmechaniker bei TWA verdiente der Vater von vier Kindern bis zu seiner Entlassung 1992 520 Dollar Wochenlohn plus Sozialleistungen. Heute verdingt er sich als Schulbusfahrer für 150 Dollar pro Woche und serviert danach Hamburger bei McDonalds. Seine Frau arbeitet nachts im Warenlager eines Spielwarenkonzerns und schiebt ebenfalls einmal pro Woche Schicht bei dem Fast-Food- und Niedriglohnkonzern. Zusammen kratzen sie ein Jahreseinkommen von 18.000 Dollar zusammen – nicht einmal die Hälfte dessen, was er einst bei TWA verdiente. Der Fall ist ebenso drastisch wie symptomatisch – eines von vielen Beispielen des von ÖkonomInnen prognostizierten Ende des „blue collar“- Mittelstandes.

Entsprechend ist der Anteil des Dienstleistungssektors am gesamten Arbeitsmarkt gewachsen – vor allem die Abteilung „Niedriglohnjobs“. Die Supermarktkette Wal- Mart hat sich inzwischen mit rund 500.000 Angestellten zum zweitgrößten privaten Arbeitgeber nach General Motors gemausert. Bei Wal-Mart arbeitet die ehemalige IBM-Programmiererin als Verkäuferin in der Wäscheabteilung, der ehemalige Buchhalter manövriert den Gabelstapler und die Ex-Besitzerin des Drogerieladens im Ort, der von Wal-Mart aus dem Geschäft gedrängt wurde, sitzt an der Kasse. Ihr Stundenlohn beträgt im ersten Jahr 4,50 Dollar – 25 Cent mehr als der gesetzlich festgelegte Mindestlohn.

Bis zu sieben Mal, so hatte Bill Clinton den BürgerInnen im Wahlkampf prophezeit, müßten sie bei einem immer flexibleren und unsichereren Arbeitsmarkt ihren Arbeitsplatz wechseln. Weiterbildung, Umschulung, College und Computer – so hießen die Zauberworte in seinem Wahlkampfprogramm „Putting People First“. Kombiniert mit einem enormen staatlichen Investitionsprogramm für Infrastruktur, Erziehungswesen, Technologie und Umweltschutz sollten auf diese Weise „Millionen gut bezahlter Jobs“ entstehen. Doch der letzte Teil des Programms scheiterte am Widerstand im Kongreß und an den Einwänden jener Fraktion in der US- Regierung, die der Defizitbekämpfung absolute Priorität einräumt.

Folglich spricht auch Arbeitsminister Reich, der zur unterlegenen Fraktion zählt, nicht mehr von staatlichen Investitionen in Straßenbau oder „Computer Highway“, sondern nur noch von Umschulung und Weiterbildung für ArbeitnehmerInnen. Kurz vor Beginn des „Job-Summits“ in Detroit stellte er zusammen mit seinem Präsidenten den „Re-Employment Act“ vor – ein Gesetzentwurf, der das System der Arbeitslosenversorgung reformieren soll. Wer in seinem alten Beruf als nicht mehr vermittelbar gilt, soll in staatliche Weiterbildungs- und Beratungsmaßnahmen eingegliedert werden und bis zu 18 Monate lang Arbeitslosengeld erhalten.

Allerdings schützen die staatlichen Umschulungs- und Trainingsmaßnahmen keineswegs vor Lohneinbußen. Eine 1993 im Auftrag des Arbeitsministeriums erstellte Studie ergab, daß drei Viertel aller Arbeitnehmer in ihren neuen Jobs weniger verdienen als in ihren alten. Zudem ist die Phase des „Streamlining“ und „Downsizing“ keineswegs vorbei. Diese Begriffe sind in einer schlankheitsbesessenen Gesellschaft wie der USA die Euphemismen für Massenentlassungen, die nun, im hektischen Startgedränge um einen guten Platz im neuen Informationszeitalter, Telefongesellschaften vornehmen. Der Marktriese A.T.& T. kündigte Anfang Februar den Abbauf von 15.000 Arbeitsplätzen in den nächsten zwei Jahren an. Einen Monat zuvor gaben die Telefongesellschaften GTE und Nynex bekannt, jeweils 17.000 Jobs wegzurationalisieren zu wollen.

Entgegen der Thesen mancher Kommentatoren dürfte es auch für die USA in Detroit Anlaß zum Nachdenken geben. Zwar kann die US-Gesellschaft offensichtlich mit Dimensionen sozialer Ungleichheit existieren, die in vielen westeuropäischen Ländern (noch) undenkbar sind. Doch eine Erosion des Mittelstandes, warnt MIT- Ökonom Lester Thurow, stellt die in den USA und Europa so heilige Allianz von Kapitalismus und Demokratie in Frage. Man könne nicht auf Dauer einer Mehrheit der Bevölkerung Lohnkürzungen zumuten, ohne damit die Legitimation eines demokratischen Systems zu gefährden.