Das Mantelprogramm

■ Wenn der Mantel der Geschichte das Fernsehen streift: Mit "Spuren" geht West 3 neue Wege

Im Hintergrund ertönt Maschinengewehrknattern. Eine blecherne Wochenschaustimme bellt. Zu schweren Granateinschlägen wird Braten gereicht. Zum sonntäglichen Mittagessen läuft seit jeher der Fernseher. Nach Höfers „Frühschoppen“ (später: „Presseclub“) folgte der „Wochenspiegel“ und dann „Vor vierzig Jahren“ (jetzt: „Damals“). Träge Augen verfolgen Woche für Woche mit vollem Bauch Bilder in klassischem Schwarzweiß: Adenauer hebt die Hand zum Schwur, Demonstranten werfen während des Prager Frühlings Steine auf Panzer, Sepp Herrberger auf den Schultern des Erfolgs – dann das Bild des hohlwangigen Deutschen der Nachkriegszeit.

Dieser mit euphorischen Geigenklängen untermalte Trailer hat aufgrund seiner hundertfachen Wiederholung das Thema Geschichte im Fernsehen monopolisiert. Nicht nur deswegen, weil „Damals“ die einzige regelmäßige Fernsehsendung über Geschichte ist, sondern wegen ihrer Machart: Hier werden Ereignisse, die die „Wochenschau“ vor vierzig Jahren zeigte, einfach aus dem Archiv geholt und neu präsentiert.

Zwar werden die Ereignisse relativ angemessen kommentiert. Doch Geschichte ist mehr als nur die lineare Abfolge unveränderlich festgeschriebener Momente. Diese mathematisch-chronologische Abfolge hat Walter Benjamin als „Geschichtsschreibung der herrschenden Klasse“ kritisiert. Nach seiner Auffassung ist die Geschichte Teil der Gegenwart. Mit jeder Veränderung der Gegenwart wandelt sich auch der Blick auf die Vergangenheit, die so zu einem ständig sich wandelnden – aber kontinuierlich bleibenden – Weg wird, der in der Aktualität mündet und sie zugleich definiert.

Zu einer derart flexiblen Historiendarstellung ist die ZDF-Sendung „Damals“ schon aufgrund ihrer programmatischen Starre nicht in der Lage. Aus programmplanerischer Perspektive ist das Sendekonzept von „Damals“ gewiß klar und transparent. Mit Benjamin gedacht, birgt diese museale Präsentation jedoch eine tiefgreifende Unzulänglichkeit. Historie im Fernsehen entspricht daher zumeist jenem langweiligen Geschichtsunterricht in der Schule, wo Generationen von Paukern daran scheiterten, den Nationalsozialismus zu erklären...

Daß das neue WDR-Geschichtsmagazin „Spuren“ wie selbstverständlich anders herangeht, ist vor diesem Hintergrund erfrischend. Ausgangspunkt ist Spielbergs „Schindlers Liste“, der naheliegenderweise im Zusammenhang mit Bonengels „Beruf Neonazi“ betrachtet wird. Die Beeinflußbarkeit der Massen, Grundlage für den Naziterror, wird darauf mit provozierender Einfachheit in den Zusammenhang mit der uniformen Massenhysterie bei Popkonzerten gestellt.

Damit nicht genug. Eine Kölner Ausstellung liefert den Anlaß, gleichzeitig noch die Völkervernichtung der spanischen Eroberer in Lateinamerika ins Gedächtnis zu rufen. Diese wird wiederum mit der gegenwärtigen Rebellion der Zapatisten in Mexiko assoziiert und vor dem Hintergrund der ersten mexikanischen Revolution (1910–1917) diskutiert...

Das klingt nach postmodernem Eklektizismus, wo man statt zur klaren Analyse nur vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt. Ist es aber nicht. Die Sendung „Spuren“ ist eine Art Geschichtslabor, das sogar seine eigene Struktur transparent macht und das Publikum auffordert, eigene Themenvorschläge einzubringen. Das klingt zu schön, um wahr zu sein. Doch wenn das Konzept fruchtet, hätten wir endlich ein „interaktives Fernsehen“, das diesen Namen verdient. So sehen wir im Lauf der Sendung die ersten Beiträge noch einmal aus der Perspektive der Autoren und Cutter, die vor dem Monitor noch überlegen, wie sie genau das hinbekommen, was wir schon gesehen haben: Historie als Work in Progress – formal und inhaltlich: „Spuren“ werden nicht gesichert, sondern gelesen.

„Spuren“ sperrt sich bewußt der abschließenden Betrachtung. Verschiedenartigte Zeitphänomene lassen in assoziativem Zusammenhang ein offenes Bild der Geschichte entstehen. Durch die themenübergreifende Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart wird Historie zu einem Phänomen, das einen bei der Gestaltung der Zukunft wieder unmittelbar angeht. Manfred Riepe

Wer sich jetzt auf die nächste Sendung freut, muß nur noch drei Monate abwarten: Frische „Spuren“ werden in West 3 am 12.6. gelesen.