Den Untergang der Welt erfinden

■ Anne und Patrick Poirer, Spezialisten für Stichgrabungen in das Verborgene, im Wiener MMuseum für Moderne Kunst

Im barocken Gartenpalais Liechtenstein, Gehäuse des Wiener Museums für Moderne Kunst, spiegeln die Deckengemälde eine große Sehnsucht nach der Antike – blaue Himmel, rosige Götter, weiße Säulen. Momentan breitet sich unter dieser Vision des Paradieses zusätzlich eine gigantische Ruinenlandschaft aus – gestürzte Säulen, geschliffene Mauern, geborstene Häuser. „Ostia Antica, Construction“, 1971/72 von dem französischen Künstlerpaar Anne und Patrick Poirier in Terrakotta geformt, bezeichnet den Beginn ihrer Recherche über die Interpretation des Vergangenen. Das Modell basiert auf ihrer Erinnerung an einen Ort, den sie zuvor mit Schritten vermessen und im Gedächtnis an den eigenen Körper gespeichert hatten. Doch aus der Interpretation vergangener Stätten entwickelte sich im Lauf der nächsten beiden Jahrzehnte die Projektion. Ein vielfältiges „Als Ob“ entspann sich, von beiden Künstlern mit eifrig produzierten Indizien ausgestattet. Sie schlüpften in die Rolle eines Beobachters, der die Tagebücher, Notizen und Modelle eines Architekten und Archäologen entdeckt; dieser war seinerseits gigantischen Städten nicht mehr zu verortender Kulturen auf der Spur.

„Mnemosyne“ nennen sich die „Ausgrabungen“ der neunziger Jahre. Arenen und Stadien verketten sich dort zu Schauplätzen endloser Massenspektakel, symmetrisch umgeben von Pyramiden, Terrassen und Türmen. Die Formen kolportieren die Geschichte der Herrschaftsarchitektur vom mythischen Babylon bis zur Französischen Revolution. Je fragmentarischer die Überlieferung der vergessenen Kultur scheint, desto mehr schießt ihr von den Poiriers bearbeitetes Inventar ins Monumentale.

Je mehr sich die Autorschaft der Künstler in eine Vielzahl imaginärer Entdecker aufsplittet, desto weiter entfernen sich die Architekturen von einer geographischen Verortung. Statt dessen scheinen sie die Erinnerungsarbeit selbst in materielle Strukturen zu übersetzen. In Zeichnungen werden die ovalen Grundrisse von Gebäuden über die faltige Landschaft des Gehirns geblendet und in kleinen Abgüssen in die Schädelschale versetzt. Die weiträumige Auffaltung der Vorstellung vom Gedächtnis liefert damit ein Gegenbild zum Datenspeicher des Computers.

In Serien von Zeichnungen, Fotografien und Collagen entfaltet sich ein mythisches Denken, das in analogen Ketten von der Symmetrie des Pflanzenblattes zu den Hemisphären der Weltkugel wandert, von dort aus die Hälften des Hirns durchquert, um schließlich zur Ordnung der Grundrisse zu gelangen. Ein endloser Kosmos produziert sich so aus der einen Zelle des menschlichen Schädels.

Diesem produktiven Prinzip steht die unaufhaltsame Vernichtung gegenüber, die nach Art der Poirierschen Darstellung die wiederentdeckten „Kulturen“ betroffen haben muß. In nichts anderem aber, als in der aufgezeigten Anhäufung der Zeichen ihrer Macht, kann man ihren Untergang begründet sehen, während sich in den fiktiven Rekonstruktionen des Versunkenen zugleich die Lust an der Entdeckung und an der Versenkung mitteilt. Erst die Imagination des Zerfalls dieser megalomanen Stätten macht ihren Anblick erträglich. Aus der Vertiefung in die Strukturen des Gedächtnis entsteht erneut eine Fiktion. Darunter rumort die Sucht nach dem Verlust, so wie nichts die Imagination so sehr anreizt wie die Suche nach dem Verlorenen.

Ein großer Teil der Installationen von Anne und Patrick Poirier gilt der Aufbewahrung von „geretteten Fragementen“, deren Kostbarkeit durch die Hüllen gesteigert wird. In „Anima Mundi“ (1989) haben sie das historische Formenvokabular von Säulen, Torsi und Masken als Abdrücke in Papier festgehalten, das viel ausdrucksvoller als der traditionelle Gips eine Aura der Fragilität der Altertümer erzeugt. 1992 rüsteten sie das „Archiv der Archäologie“ mit vielen schmalen Lackschränkchen aus, deren halb geöffnete Schubladen ein Jucken in den Fingern wecken und zum Kramen und Ordnen verführen möchten, stünde da nicht „Berühren verboten“. Fast scheint sich in der Inszenierung dieser Rarissima die ganz alltägliche Souvenirproduktion zu spiegeln, wären da nicht ihre gigantischen Ausmaße. Allenfalls kämen als Vergleich jene Bastler in Betracht, die in jahrelanger Kleinarbeit die Städte ihrer Jugend, die im Krieg zu Klump geschossen wurden, als Modell wiederaufbauen. Womöglich schimmert am tiefsten Punkt der Fluchtlinie in die Kunsträume der 1942 geborenen Poiriers ein Bild der kriegszerstörten Städte Frankreichs auf. Allein die Heimwerker wollen mit der Rekonstruktion ihrem Bild einer vergangenen Realität so nahe wie möglich kommen. Die Arbeit der Poiriers hingegen weist jede „Rekonstruktion“ als Fiktion aus. Katrin Bettina Müller

Ausstellung „Anne und Patrick Poirier“ bis 5. April im Museum für Moderne Kunst, Wien; 23.4.– 23.6., Centre d Art Contemporain, Frejus. Katalog, ersch. Mailand 1994, 250 Schilling, etwa 36 DM