„Wer liest, genießt“

■ Stadtentscheid beim SchülerInnen-Vorlesewettbewerb: Texte über Radioaktivität und andere Sozialkritik aus Kindermund

„Meine Geschichte handelt von Radioaktivität“, sagt Janne Marahrens, setzt ein ernstes Gesicht auf und beugt sich über das Mikrophon. Janne ist Sechsklässlerin, und sie ist eines der vierzehn Bremer Schulkinder, die am Stadtentscheid zum Vorlesewettbewerb der SchülerInnen Bremens teilnahmen. Dafür las sie aus dem Buch „Die Wolke“ vor. „Das sind keine niedlichen Texte“, stellte Wettbewerbsorganisator Horst Baraczewski von der Buchhandlung Geist fest. Wie Janne kamen alle Vorleserinnen mit Eltern und Geschwistern im Schlepptau, um sich in der Kunst des Vorlesens zu behaupten. Aber nicht alle Kinder suchten unter den sozialkritischen Texten nach einem Vorlesebuch.

Manche wählten eben doch die „niedlichen“ Kindergeschichten über das Sams oder Ronja Räubertochter. Der „ziemliche Niveauunterschied“ zwischen den vorgelesenen Texten ist der Buchhändlerin Gisela Winckler aufgefallen. Sie war eines der acht Jurymitglieder, die vom weißen Tisch aus mit streng gespitzen Ohren urteilten. Die spannungsgeladene Atmosphäre machte denn auch mancher VorleserIn zu schaffen. Schwierigster Brocken: die erforderliche Inhaltsangabe, die als „Textverständnis“ gewertet wird. Da stolperten einige der Mädchen und Jungen über die eigene Zunge und suchten verzweifelt nach den richtigen Worten: „In der Jury hatten wir manchmal das Gefühl, daß die Eltern die Inhaltsangaben geschrieben haben.“

So rennen die Jugendlichen den Weg zum Vorlesetisch entlang, um sich dann ebenso hektisch auf den mit einem Kissen erhöhten Stuhl zu werfen. Bei den ersten Worten ihres Textes fällt die Unruhe schon von ihnen ab. So geht es ebenfalls Meike Bösel, die aus dem Buch „Ole und Orkan“ vorliest. In dem von ihr ausgewählten Abschnitt denkt Ole über seinen neuen Adoptivbruder nach. Nach wenigen Minuten macht Meike der nächsten Vorleserin Platz: Yiliz Ousta hat sich eine Stelle aus „Hamide spielt Hamide“ ausgesucht, in der ein Mädchen Angst hat vor der Gewalt in der Schule. „Ich habe die Geschichte gewählt, weil sie so realitätsnah ist.“

Justus Reinke hat, wie die meisten Jugendlichen, seinen Text selbst ausgesucht. „Naja, der gefiel mir halt“, sagte er zu der Geschichte, wo zwei Brüder den neuen Mann ihrer Mutter als Faulpelz und Bedrohung erleben. Für Nils Wetzel war das wichtigste, daß es „lustig“ sein sollte. So nahm er sich „Berts gesammelte Katastrophen“ vor. Da schüttet ein dreizehnjähriger Junge auf humorige Weise seinem Tagebuch das Herz aus.

Doch „Humor“ war für die Jury kein Kriterium. Sie achtete vor allem auf Lesetechnik und Textgestaltung. Nach zweieinhalb Stunden stand fest: „Zwei Goldmedaillen“ und einen dritten Platz für Insa Knapp, Janne Marahrens und Sarah Ehlers. „Wer liest, genießt“ zitierte ein Mitarbeiter der Buchhandlung aus einer Broschüre der Stiftung Lesen. Einige der jungen Zuhörerinnen aber fanden's einfach „echt geil“. vivA