Das amerikanische Paradewesen Von Andrea Böhm

Die Bedeutung des Tages kann man gar nicht überschätzen. St. Patrick's Day ist für die Iren in den USA in jedem Sinne heilig – ein Umstand, der jährlich mit einer gigantischen Parade manifestiert wird, der eine halbe Million Menschen beiwohnen.

Gefeiert wird alles, was irisch ist, das Guinness, die Kennedys und der heilige St. Patrick höchstselbst. Dies ist kein guter Tag, um, aus welchen Gründen auch immer, die Fahne des Union Jack zur Schau zu stellen oder lauthals den Protestantismus zu loben.

Doch dieses Jahr geschieht in der irischen Hochburg Boston das Unvorstellbare: Die St. Patrick's Day Parade findet zum ersten Mal seit 92 Jahren nicht statt. Die Veranstalter haben sie abgesagt. Nein, nicht die britische Königin hatte ihr Kommen angedroht. Viel schlimmer: Die Schwulen und Lesben wollten mitlaufen. Wer ein wenig Erfahrung im amerikanischen Paradewesen hat, weiß zweierlei: Erstens haben diese Veranstaltungen nicht nur Prestige, sondern verleihen es auch jenen, die mitlaufen dürfen. Denn bei Paraden werden Elemente einer Wallfahrt mit Karneval und, je nach Anlaß, Nationalstolz, Lokalpatriotismus oder ethnischer Identität verknüpft.

Zweitens zählen Schwule und Lesben aufgrund ihres sozialgeschichtlich nachvollziehbaren Hanges zu unkonventionellem Auftreten zu den Organisatoren solcher Veranstaltungen. Das allerdings schreckt den „Allied War Veterans Council of South Boston“ zutiefst, der seit 1947 die St. Patrick's Day Parade in Boston organisiert. Als die „Irish-American Gay, Lesbian and Bisexual Group of Boston“ Ende letzter Woche vor einem Gericht das Recht erzwang, mit ihren heterosexuellen Landsleuten zu marschieren, erklärten die irischen Veteranen dieses Urteil zum Super-GAU und die Parade für erledigt.

Im Umgang mit Menschen, die etwas anders sind, haben sich die Einwohner von South Boston immer schon etwas schwer getan – und deswegen die Gerichte beschäftigt. Zum Beispiel im Jahre 1974, als sie sich trotz richterlicher Anordnung immer noch weigerten, die Segregation an ihren Schulen aufzuheben.

Der Bürgermeister der Stadt ahnte nun erneut schlechte Presse – und Einbußen im Fremdenverkehr und suchte verzweifelt nach einem neuen Sponsor. Doch keine irische Organisation wollte aus der Front homophobischer Borniertheit ausscheren. Vielleicht hätte der Mann mehr Erfolg gehabt, würde er Maguire statt Menino heißen. Aber vor wenigen Monaten wurde in Boston nach Jahrzehnten irischer Dominanz der erste Italo-Amerikaner zum Stadtoberhaupt gewählt. Es sind wahrlich harte Zeiten für die Iren.

Und für die Bostoner im allgemeinen. Wer nicht auf den Genuß einer Parade zum St. Patrick's Day verzichten will, dem bleibt nichts anderes übrig, als nach New York zu fahren, wo traditionsgemäß marschiert wird – und zwar unter Anleitung der irischen „Ancient Order of Hibernians“, die Schwule und Lesben ebenso fürchtet wie die Bostoner Kriegsveteranen.

Wer etwas auf Prinzipientreue und Bürgerrechte hält, der verzichtet dieses Jahr auf die Parade. Denn in New York dürfen die Schwulen und Lesben laut Gerichtsbeschluß beim St. Patrick's Day nur zuschauen.