Die Traurigkeit in der Stadt der Ruinen

■ Straßenbahnen fahren, Kneipen öffnen, doch zur Normalität ist es in Sarajevo noch weit

Langsam erwacht in Sarajevo das Leben wieder. Menschen bummeln durch die Straßen, Mütter bringen ihre Kinder ins Freie, und Lippenstift läßt die Gesichter der Mädchen strahlen. Die Straßenbahngeleise wurden geräumt, die beiden ersten Waggons gestürmt. Ein wenig Gemüse ist am Markt erhältlich, und die kleinen Kneipen sind überfüllt mit Menschen, die Kaffee oder Bier trinken. In den Schulen wird wieder unterrichtet, ein Theater und die Philharmoniker haben ihr Programm wieder aufgenommen. Ich habe einen offenen Friseursalon gesehen, einige Textilgeschäfte haben ihre Auslagen dekoriert.

Manche ersetzten ihre zerbrochenen Schaufenster mit Plastikplanen, während andere Eisen- oder Zinkplatten in den Ruinen suchen. Ich habe einen Mann beim Sähen beobachtet, einige beschädigte Autos befahren die geräumten Straßen, und das Schnurren der weißen, gepanzerten Unprofor- Fahrzeuge geben der Stadt einen Anstrich von Frieden. Das bosnische Fernsehen sendet wieder, und die Tageszeitung Oslobodjenje druckte in der Ausgabe vom 9. März sechs Seiten Todesanzeigen – trotz der Aussage eines Sargtischlers, der erzählte, seit dem Waffenstillstand sei das Geschäft rapide zurückgegangen. Das Feuer hat mehr oder weniger aufgehört, und ausländische Journalisten klagen, sie hätten nichts mehr zu tun.

Aber trotzdem ist Sarajevo noch eine Stadt im Kriegszustand, noch immer von den Serben eingekesselt, die alle Ausgänge kontrollieren und damit die 350.000 Einwohner vom Rest der Welt abschneiden. Nur humanitäre Hilfe kommt durch zu ihnen, die Waren, die auf der Straße verkauft werden, kommen vom Schwarzmarkt. Die wenigen Fahrzeuge sind auf Sarajevo beschränkt, denn die Wegweiser nach Mostar oder Banja Luka zeigen nicht mehr Orte an, in die man fahren kann, sondern nur noch Punkte auf einer Karte. Das Telefonnetz endet an der Belagerungslinie, und Post erreicht ihr Ziel nicht mehr – außer über Umwege: Täglich um 15.30 Uhr sendet „Radio 99“ Namen und Adressen von Briefen, die durch Hilfsorganisationen in die Stadt kamen.

Und niemand sieht ein Ende der Belagerung. Man glaubt, sie werde so lange dauern, wie der Krieg in Bosnien, von dem viele, vor allem Intellektuelle, fürchten, daß er zum Zerbrechen Bosniens führen und die Teilung Sarajevos mit sich bringen wird. Sarajevo ist eine multikulturelle Stadt, wo jede Familie serbische, kroatische und muslimische Mitglieder hat und wo katholische und orthodoxe Kirchen, Moscheen und Synagogen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt stehen. Das serbische Viertel von Grbavica ist schon vom Rest der Stadt abgeschnitten. UN-Blauhelme, die an der Brücke der Brüderlichkeit postiert sind, verweigern den Zutritt dorthin.

Eine Kriegswirtschaft hat sich etabliert, mit anderen Worten, eine zerstörte Wirtschaft, die nichts mehr produziert. Gesellschaften wurden aufgelöst, und Energie ist knapp. Die Zeitung Vecernje Novine, die früher eine Auflage von 100.000 Stück hatte, schafft im Moment nur rund 1.000 Stück an drei Tagen der Woche – es fehlt an Papier. Die Gehälter der 46 Journalisten sind von 1.500 auf eine Mark gesunken. Die lokale Währung ist verschwunden, gekauft wird für Mark, Dollar, Zigaretten, Alkohol oder Benzin. Die Menschen sind gezwungen, von Unterstützung, Tausch oder Findigkeit zu leben. Keine Bank hat ihre Geschäfte wieder aufgenommen – ein unmißverständlicher Hinweis auf die wirtschaftliche Situation.

Wer wird diese zerstörte Stadt wieder aufbauen? Werden wir jemals die Löcher füllen können, die durch die Granaten und Gewehrkugeln entstanden sind? Wird ein einziges Gebäude übrigbleiben, dessen Scheiben nicht in Stücke geschlagen sind? Und wer wird die Straßen von den Barrikaden freiräumen? Wer wird den Bosniern ihr Parlament zurückgeben, ihre Kirchen, Moscheen, Sportzentren, ihre Bibliothek – ein Juwel österreichischer Baukunst – und die Million verkohlter Bücher darin? Und wer wird die Reihen von Bäumen wieder pflanzen, die zu Brennholz geschnitten wurden? „Von jetzt an beginnt das Grün hinter der Front. Es ist für die Serben reserviert“, meint der Leiter des städtischen Planungsbüros, „zum Wiederaufbau der Stadt werden wir Geld brauchen, sehr viel Geld.“

Über all dem stehen die Menschen, die heldenhaften Bewohner Sarajevos. Die Zahl der Verstümmelten wird auf 7.000 geschätzt. Meist sind es junge Leute, die man in den Straßen mit ihren Krücken sieht. Auch die Kinder, die in den Ruinen Krieg spielen, haben genug Gewalt für ein ganzes Leben abbekommen. Was ist mit den Anfällen von Langeweile und dem Gefühl der Nutzlosigkeit? Miro, der Architekt einiger Bauten in Sarajevo, hat mich zu sich nach Hause eingeladen, besser gesagt, zu seinem Bruder, bei dem er lebt, seit er sein Haus im serbischen Viertel der Stadt verlassen mußte. Seit Kriegsbeginn hat er nicht gearbeitet und malt, um nicht verrückt zu werden, Miniaturlandschaften auf die Rückseite von Zigarettenpackungen. „Wir sind ins Mittelalter zurückgefallen“, sagt er, „der Krieg hat die wahre Natur des Menschen enthüllt. Selbst Intellektuelle, wie der serbische Vize-Präsident, der die gesamten Werke Shakespeares kennt, haben sich als gedankenlose Kreaturen entpuppt.“

Wie kann man nicht besorgt sein um Elminas verzweifelte Eltern? Während ihrer Anfälle ist das fünf Jahre alte Mädchen überzeugt, daß ihr jemand den Arm oder den Kopf abschneiden will. Jetzt ist sie im Krankenhaus, in der psychiatrischen Abteilung. „Die Ärzte haben eine kindliche Psychose diagnostiziert“, erklärt ihre Mutter. „Aber sie kann sehr gut sprechen, vielleicht wegen der Sedativa. Wir versuchen, sie im Ausland behandeln zu lassen, aber wie sollen wir aus der Stadt kommen?“ Emina ist ein Abbild des Krieges, eines Ortes, wo Worte aufgehört haben, Bedeutung zu haben. Sarajevo ist zum Platzen voll von ungesagten Worten. Jedes Einschußloch, jede zerbrochene Fensterscheibe, jeder begrabene Körper ist ein Satz, der im Hals steckengeblieben ist. Und auch wenn die Menschen in Sarajevo jetzt wieder zu sprechen beginnen, so atmet die Stadt doch noch immer die Gewalt dieser ungesagten Worte. Jean Luc Outers

Der Autor ist Mitarbeiter der Tageszeitung „La Libre Belgique“.