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Ungarn: Unabhängige Medien mundtot gemacht

■ Zehntausende demonstrierten für Pressefreiheit und gegen Rechtsradikalismus

Budapest (taz) – Die Musik der ungarischen Nationalhymne eignet sich nicht zu blind-fröhlichem Marschieren. Ihr Tempo ist langsam, ihre Melodie feierlich und voller Traurigkeit. So erfüllte sie ihren Zweck, als sie am Beginn einer Kundgebung für Pressefreiheit und gegen Rechtsradikalismus in den Medien gespielt wurde, zu der sich am Montag, am Vorabend des ungarischen Nationalfeiertags, in Budapest mehrere zehntausend Menschen versammelten.

Der Anlaß war, wie Kundgebungsredner meinten, nicht nur traurig, sondern ebenso einmalig. Was Ungarns Kommunisten jahrzehntelang nicht gewagt hätten, das habe sich die gegenwärtige demokratische Administration gestattet: Am 4. März, zwei Monate vor den Parlamentswahlen, wurde 129 Journalisten des ungarischen Radios gekündigt, den meisten davon zusammen mit einem sofortigen Arbeitsverbot. Verantwortlich für die Maßnahme zeichnet offiziell Rundfunkintendant László Csúcs, der von der Regierung beschlossene Sparmaßnahmen als Grund anführte und später zugab, daß auch „beruflich-ethische“ Gründe eine Rolle gespielt hätten. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, verdeutlicht die Liste der Gekündigten. Unter ihnen befinden sich namhafte Journalisten, deren kritische Haltung gegenüber der Regierung bekannt ist. Im Zuge der Kündigungen strich Csúcs auch eine der populärsten Sendungen des ungarischen Radios aus dem Programm, „168 Stunden“, die bereits den Kommunisten ein Dorn im Auge war.

Harte Worte fielen auf der Kundgebung über die Entlassung der 129 Journalisten. Ungarn drohe ein moralisches Tschernobyl, so Miklós Mészöly, der Sprecher der „Demokratischen Charta“, Organisatorin der Manifestation und im Herbst 1991 unter anderem gegründet, als der sogenannte „Medienkrieg“ zum ersten Mal einen Höhepunkt erreichte.

Im August 1991, hatte die Regierungspartei in einem Geheimpapier, das der Presse zugespielt worden war, Strategien vorgeschlagen, um die Herrschaft über Fernsehen und Rundfunk zu erlangen. Die Intendanten des Fernsehens, Rundfunks und der ungarischen Nachrichtenagentur wurden entlassen, Gewährsmänner der Regierung eingesetzt, unliebsame Sendungen aus den Programmen gestrichen und reihenweise kritische Journalisten entlassen.

Bei all dem überließ die Regierungspartei „Ungarisches Demokratisches Forum“ (MDF) die Schmutzarbeit bekannten Rechtsradikalen aus ihren Reihen. In der Folge besetzten etwa Anhänger und Sympathisanten des antisemitischen Dramenschreiber-Politikers István Csurka, Mitte letzten Jahres aus dem MDF ausgeschlossen, Fernseh- und Rundfunkposten. Von diesen aus betreiben sie nun kräftig Propaganda, die ganz dem Gedankengut aus Csurkas „Ungarischer Gerechtigkeits- und Lebenspartei“ entspricht. So war in dem Fernsehmagazin „Panorama“ zu hören, zwischen Auschwitz und Hebron bestehe nur ein Unterschied der Größenordnung. Andere Sendungen, wie etwa die Abendnachrichten „Híradó“, sind ihrerseits zum Sprachrohr der Regierung verkommen.

Doch Regierung und MDF sehen, wie sie immer wieder verkünden, die Gefahr auf der linken Seite. Es ist schwer vorstellbar, daß sie, wie Regierungschef Péter Boross behauptet, ihre Finger beim neuesten Höhepunkt im „Medienkrieg“ nicht im Spiel haben soll. Ginge es tatsächlich nur um Sparmaßnahmen, so ein Kommentator, dann hätte die Regierung damit auch bis nach den Wahlen warten können. Eine Äußerung des Staatspräsidenten Árpád Göncz, die Ende letzten Jahres einen Skandal auslöste, scheint sich bewahrheitet zu haben. Die unabhängigen Medien, so Göncz, seien zum Schweigen gebracht worden, und die Opposition könne nicht mehr zum Volk sprechen. Keno Verseck

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