„Bürgersinn“ statt Bürgerwehr

Wie schützt mensch sich gegen Kriminalität und Gewalt, ohne sich bis an die Zähne zu bewaffnen? Ein polizeiliches Anti-Gewalt-Training in Berlin mobilisiert gegen „Wegseh- Mentalität“, für Alternativen zu Bewaffnung und Selbstjustiz.

Die einen möchten am liebsten in ihren Mantelkragen kriechen, die anderen starren angestrengt auf den Boden. Das geht jetzt schon drei U-Bahn-Stationen so: Ein geistig verwirrter Mann brabbelt pausenlos vor sich hin, und der Kerl an der Tür wird darüber zunehmend aggressiv. Nur eine Frage der Zeit, wann die Spannung explodiert. Am vierten Halt steigt Walter H. ein und merkt nicht, daß es im Abteil längst knistert. Er soll den Behinderten in Ruhe lassen, brüllt er den Mann an der Tür an und geht drohend auf ihn zu. Sekunden später liegt er am Boden. Wie besessen sticht der Angreifer auf ihn ein. Die Fahrgäste sitzen wie angenagelt, jemand schreit gellend, doch nur Nadja M. faßt Mut und dreht dem Kerl das offene Messer aus der Hand. Als der Zug in den nächsten Bahnhof einläuft, ist Walter H. fast verblutet, der Täter flüchtet, die U-Bahn fährt mit den wichtigsten Zeugen weg, und zu allem Überfluß ist Nadja M.'s Handtasche geklaut.

„Das reicht. Licht an.“ Die blutige Szene, die Reinhard Kautz seinem Publikum gerade auf der Leinwand vorgeführt hat, hinterläßt bei den ZuhörerInnen einige blasse Nasen. Rund 70 Erwachsene, im Schnitt zwischen 25 und 60 Jahren, sind gekommen, um nach Feierabend die Schulbank zu drücken. Wie hier im Berliner Polizeipräsidium absolvieren derzeit Tausende diesen Nachhilfeunterricht – in Schulen, Jugendzentren, Justizvollzugsanstalten, Frauengruppen. Das Unterrichtsfach ist ungewöhnlich, auf dem Stundenplan steht die Lektion: Wie schütze ich mich vor Kriminalität und Gewalt, ohne mich bis an die Zähne zu bewaffnen? Und wie kann ich agieren in diesem innerstädtischen Bürgerkrieg, in dem jeder meint, sich hochrüsten zu müssen?

Reinhard Kautz ist Kriminalhauptkommissar, im Nebenjob eher Missionar. Er predigt gegen die „Wegseh-Mentalität“, für „Bürgersinn“, für Alternativen zu Bewaffnung und Bürgerwehr. Mehr als 8.000 Teilnehmer hat Kautz in den letzten zwei Jahren durch das polizeiliche Anti-Gewalt-Training geschleust. Und auch an diesem Abend hängt das Publikum an seinen Lippen: die beiden Wachschützer mit den künstlich aufgemotzten Schultern, die zierliche Taxifahrerin, der ältere Herr aus der Kleingartenkolonie, das Ehepaar, das sich in Minutenabständen ein „Siehste!“ zuflüstert, die junge Frau, die zu erkennen gibt, daß sie selbst mal Opfer von Gewalt geworden ist und sich bis heute „saumäßig elend“ fühlt, weil ihr damals keiner geholfen hat. Drei Stunden bläut Kautz seinen Teilnehmern seine Lektionen ein, läßt sie im Rollenspiel zigmal mit der U-Bahn fahren und mit einer Clique von „angeturnten“ Jugendlichen zusammenstoßen.

„Also, was ist gerade schiefgelaufen mit dem Messerstecher im Abteil?“ Alles! Die Antwort war einfach. Nur: Was hätte man anders machen können? „Man hätte sich zwischen die beiden Männer stellen können“, „vielleicht hätte man den Behinderten nehmen und mit ihm aussteigen sollen“, oder „den Angreifer irgendwie beruhigen“, so die zögerlichen Antworten. Auf die sicherste Lösung kommen die meisten nicht: am allerersten Bahnhof die Notbremse ziehen und laut um Hilfe rufen.

Warum bleibt Gewalt gerade dort privat, wo sie öffentlich begangen wird, auf Straßen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Kneipen? Warum greift niemand ein? „Aus Angst“, meint der Herr im karierten Jackett, „aus Unsicherheit“, vermutet die grauhaarige Dame, „aus Bequemlichkeit“ argwöhnt die Frau in der ersten Reihe. Falsch, alles falsch. „Aus Peinlichkeit“, meint Reinhard Kautz. Niemand will sich in fremde Angelegenheiten einmischen.

Was tun, wenn man kein Held sein will ...

Schon das Opfer könnte den sich anbahnenden Konflikt entschärfen, indem es sich demonstrativ wegsetzt von dem Belästiger. Oder durch lautes Rufen: „Hören Sie auf damit!“ Oder indem es Umstehende deutlich vernehmbar um Hilfe bittet. Dann liegt die Peinlichkeit beim Täter. Kautz-Tip: sich möglichst gar nicht an den Angreifer selbst wenden, sondern demonstrativ Schutz bei Unbeteiligten suchen. „Bei Gewalt heißt helfen nicht ins Tatgeschehen eingreifen, sondern für den Täter sichtbar Hilfe zu holen.“ Tip Nummer zwei: die Frauen ansprechen. „Die Männer“, predigt Kautz, „können Sie vergessen. Die stehen da wie angeklebt mit offenem Fischmaul.“ Der Kripomann hat mit einer Kollegin die Probe aufs Exempel gemacht. Als sie in der U-Bahn gegen seine gespielte Zudringlichkeit Hilfe suchte, griffen von 50 Frauen 48 ein. Von den Männern rührte sich kein einziger.

Aber was kann man tun, wenn man kein Held sein will? „Die Peinlichkeit überwinden, laut zu sein.“ Also wird das Lautsein trainiert: „Aufhören, aufhören!“ „Ich hol' die Polizei!“ 70 Kehlen brüllen dem fiktiven Skinhead an der Wand die Warnung zu. Nach bisherigen Erfahrungen reicht meist schon dieser kollektive Ruf. Doch seit einiger Zeit beobachten die Kriminalisten neue Tätertypen. Da mag auch Kripomann Kautz keine Garantie übernehmen, daß sein Rezept auch immer hilft.

Er weiß aber, was garantiert nicht hilft: Waffen und Selbstverteidigungsutensilien aller Art, die gerade bei Frauen gebräuchlichen Reizgaspatronen – aus der Distanz unwirksam, aus der Nähe leicht gegen das Opfer selbst zu richten. Messer und Pistolen, die zieht der Gegenüber immer schneller. In der Praxis werden sie ohnehin gegen die gerichtet, für die sie nicht gedacht waren: gegen die Ehefrau, den Haushund, den Zechkumpan in der Kneipe. Elektroschocker mit 80.000 Volt, die kann Kautz dem Wachmann noch so dicht an die Lederjacke halten – der spürt nichts. Bürgerwehren? Der Kripomann hebt beschwörend die Arme: „Vor denen müssen wir uns schützen. Die sind eine Riesengefahr.“

Reinhard Kautz fordert statt dessen „Bürgerwehr von unten“ – ohne Selbstjustiz und ohne Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols. Anfang des Jahres hat er in Berlin den Verein „Nachbarn helfen Nachbarn“ gegründet, eine überparteiliche Bürgerinitiative zum Schutz gegen Gewalt, Kriminalität und Fremdenhaß. Etliches, was der Verein plant, ist in den USA längst gängige Praxis: ein Trainingszentrum für Anti-Gewalt- und Selbstbehauptungskurse, Schulwegbegleitung für Kinder, die sich aus Angst vor der Clique nicht mehr auf die Straße trauen, eine Tauschaktion „Waffe gegen Geschenk“. Vera Gaserow