Abendgesellschaft in Trance

■ „Zwischensaison“ von Daniel Schmid: Erinnerungen an eine Kindheit

Es war einmal ein Hotelgast, der beschwerte sich gleich am ersten Abend beim Empfangschef: Er habe ein Zimmer mit Meerblick bestellt, doch von seinem Fenster sehe er nichts als Berge. „O Pardon“, sagte der Hotelier, „was für ein furchtbarer Irrtum, bitte nehmen Sie Zimmer 138, das ist das Zimmer, von dem man aufs Meer schaut“. Der Gast war's zufrieden, bezog von nun an immer Zimmer 138 und beklagte sich nie wieder. Diese Begebenheit spielt in der Schweiz, dem Land der Berge, in dem es kein Meer, aber wunderbare Hotels gibt, und sie ist wahr wie alles wahr und zugleich fiktiv ist in Zwischensaison, dem neuen Film des Regisseurs Daniel Schmid und der Geschichte seiner Kindheit.

„Ich habe die Vergangenheit lange ruhen lassen, und so hat auch sie mich in Ruhe gelassen“, sagt der erwachsene Erzähler Valentin (Sami Frey) anfangs, doch dann erreicht ihn ein Anruf, und so kehrt er zurück in das Hotel, in dem alles begann. Während Valentin durch die leeren Räume streift, wird seine Kindheit für ihn wieder lebendig. Er trifft auf Professor Malini, den genialen Zauberer, der eine ganze Abendgesellschaft in Trance versetzen kann, auf Fräulein Gabriel, die den Zeitungskiosk führt und von der Valentin als Kind glaubte, sie produziere die Micky-Maus-Hefte nur für ihn, auf die Barmusikanten Lilo und Max, die stets die gleichen Lieder spielen, und auf seine Großmutter, die dem Jungen von Sarah Bernhardt und der russischen Anarchistin erzählt.

Die Welt als Bühne, als magischer Ort, das Hotel als ihr Mittelpunkt, in dem sich alles trifft und sich alles zugleich ereignet, in dem Inszenierung von der Wirklichkeit nicht zu trennen ist, der Traum nicht vom Leben. „Mich interessiert nicht die Psychologie einer Person, sondern ihre Theatralik“, sagte Schmid über seinen berühmtesten Film, den Kuß der Tosca, und diese Haltung macht die Faszination seiner Figuren aus. Denn sie sind weder psychologisch entschlüsselbar noch metaphorisch verästelt, sie sind Schauspieler, die sich selber spielen, die sich inszenieren in einem Labyrinth der Geschichten. „Das Tiefste am Menschen ist seine Haut“, sagte Paul Valery, bei Daniel Schmid ist das Tiefste, das Wirklichste die Inszenierung, die Phantasien, die die Menschen von sich selber haben. Doch Phantasien sind flüchtig, und so liegt über den glanzvollen Bildern dieser untergegangenen Welt der Schatten der Vergänglichkeit. Daß die Melancholie nicht umkippt in Larmoyanz oder platte Nostalgie, liegt an Daniel Schmids Auge fürs Detail und seinem Sinn für Komik.

Als der Vater des kleinen Valentin stirbt, ist die ganze Verwandtschaft zutiefst erschüttert. Wie schwarze Krähen stehen unzählige Tanten um Valentin herum, schneuzen sich geräuschvoll ins Taschentuch und belästigen das „arme Waisenkind“ mit ihrem Mitgefühl. Valentin selber stört dieser Todesfall weniger, hat er doch seinen Erzeuger kaum gekannt. Wirklich schrecklich hingegen findet er etwas ganz anderes: daß man nach dem Tod in den Himmel kommt, und zwar auf ewig. Denn der Himmel, weiß Valentin, ist ein Hotel, aus dem niemand abreisen kann. Die Gäste sitzen dicht gedrängt in der Lobby mit dem Heiligenschein auf dem Kopf und starren mit debilem Grinsen in die Unendlichkeit. Die Vergänglichkeit mag furchtbar sein, doch die Ewigkeit ist schlimmer. Walburg von Waldenfels

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