Alles kein Problem

Methodenschichten: Thomas Zaunschirm bespiegelt Leitbilder der Kunstgeschichte.  ■ Von Dieter Scholz

„Wir Kunsthistoriker“, so beginnt Thomas Zaunschirm sein neuestes Buch und spricht damit den kleinen Kreis männlicher Fachkollegen in Amt und Würden an. Daß es dem Autor um eine Kritik der Methodensysteme als intellektueller Zwingburgen geht, wird erst später klar. Zunächst lockt er damit, daß er kunsthistorischen Schriften eine literarische Qualität zuspricht, wenn die besondere Handschrift oder die unbewußten Grundannahmen der Interpretierenden erkennbar werden.

Diese „Ästhetik der Methoden“ nachzuweisen, unternimmt Zaunschirm am Beispiel von Künstlerselbstporträts, denen sich bestimmte Wissenschaftler im Laufe ihrer Karriere mehrfach zugewendet haben. Sie werden zu den Leitbildern, die ein Forscher wählt, weil sie seinen eigenen Gedankengängen zu entsprechen scheinen. Der Kunsthistoriker identifiziert sich mit dem Künstler.

Sein erstes Beispiel ist der Klassiker der Ikonologie, Erwin Panofsky. Zaunschirm attestiert ihm, er sei über die bipolaren Grundbegriffe seines Lehreres, des Stilanalytikers Wölfflin, dadurch hinausgewachsen, daß er die Dualismen als ein System gleichzeitiger Gegensätze und deren Synthese fasse. Als analoges Bild dient ein Holzschnitt Dürers, der einen Künstler und sein Modell zeigt. Während Wölfflin mit seinem methodischen Instrumentarium bestenfalls den Standpunkt des Künstlers im Bild einnehmen könne, befinde sich Panofsky aufgrund seiner reflektierten Sichtweise wie Dürer selbst vor dem Bild. Es ist aber fraglich, ob diese Denkfigur Panofskys ein „unbewußtes“ oder „geheimes Leitmotiv“ bildet, wie Zaunschirm unterstellt. Immerhin hat Panofsky sein Denken mehrfach theoretisch begründet und 1932 und 1937 in die Form eines leicht vermittelbaren, dreistufigen Schemas gebracht, auf dem sein Erfolg bis heute gründet. Außerdem hat Panofsky sein Modell in der Auseinandersetzung mit dem Wissenssoziologen Karl Mannheim entwickelt.

Nicht daß Zaunschirm diese Fakten verschweigen würde, die Widersprüche charakterisieren eher seine eigene, Marcel Duchamp verpflichtete Denkweise, und so beschreibt er seine Arbeit elegant als „spielerische Betrachtung von Selbstbespiegelungsprozessen“. – Zaunschirms zweites Beispiel ist Panofskys Generationsgenosse Hans Sedlmayr, der ebenfalls in mehrstufigen Verfahrensweisen denkt. An Vermeers Malkunst wird einmal mehr der Methodenstreit von 1961/62 aufgewärmt, in dem Kurt Badt darauf bestand, das Bild von links nach rechts zu lesen, während Sedlmayr von vorne nach hinten drei Tiefenschichten entwickelte. Diese Analyse mündet in der Tradition christlicher Textauslegung in einer überzeitlich-religiösen Deutung.

Das von Sedlmayr als „Strukturanalyse“ bezeichnete Interpretationsmodell ist durch eine Suche nach Tiefe gekennzeichnet, in der eine innere Mitte erfahrbar gemacht werden soll. Da Zaunschirm bei Sedlmayr studiert hat, kann er sich nicht zu einer politischen Kritik durchringen. Immerhin war Sedlmayr im Nationalsozialismus so aktiv, daß er nach 1945 zunächst nur noch unter Pseudonym veröffentlichte. Erst sein Buch „Verlust der Mitte“ traf 1948 mit seiner kulturellen Verfallsdiagnose so präzise den Gefühlshaushalt der Nachkriegszeit, daß es Sedlmayr auf einen Lehrstuhl katapultierte. Doch von diesem historischen Hintergrund ist in Zaunschirms immanenter Methodendiskussion nichts zu erfahren. Für die Kritik wird ein Zitat des Fachkollegen Norbert Schneider bemüht, der Sedlmayr „ein (rückwärts gewandtes) utopisches Bedürfnis nach autoritärer Lebenssicherung“ bescheinigte.

Dagegen ist 1960 Werner Hofmanns Irdisches Paradies als Antithese zu Sedlmayr gemeint und rund um Courbets Atelierbild aufgebaut. Die Mitte wird in Buch und Gemälde klar betont, auch wenn Hofmann sie immer wieder gezielt ausspart. Sein Verfahren geht von Details aus, die durch Assoziationen sprunghaft in die Breite wuchern. Es erinnert in seinem panoramahaften Charakter an die großformatigen Werke der zeitgleichen informellen Malerei.

Ein weiteres Kapitel ist Svetlana Alpers gewidmet, deren Einschätzung niederländischer Malerei in den achtziger Jahren für Aufschreie in der Fachwelt sorgte. Hatten sich nicht seit Panofsky Heerscharen von Spezialisten darum bemüht, in den Landschafts- und Genrebildern des 17. Jahrhunderts emblematische Bedeutungen nachzuweisen? Und nun kam eine fast unbekannte Amerikanerin, bestritt ihnen die Tiefe und behauptete keck, das Wesen dieser Bilder sei es, durch bloße Beschreibung der Alltagswirklichkeit Wissen zu vermitteln! Ähnlich im Falle Rembrandts: Aus dem einsamen verinnerlichten Genie wurde in Alpers' Lesart ein souverän kalkulierender Marktstratege, der seine Werkstattmitarbeiter auf einen einheitlichen Malstil verpflichtete, um kommerziell erfolgreiche Markenware herzustellen. Das (berechtigte) Beharren auf der Oberfläche führte zu einem (nicht unberechtigten) Vorwurf der Oberflächlichkeit, da Alpers einen Teilaspekt des Bildes verabsolutiere.

Diesen kunsthistorischen Analysen stellt Zaunschirm im letzten Kapitel Michael Foucault als Philosophen gegenüber, der sich im Vorspann zur „Ordnung der Dinge“ mit Velasquez' Gemälde „Las Meninas“ beschäftigt. Hier geht es um die Motive des Spiegels, der Verdopplung und des Verschwindens. Drei Dinge faszinieren Zaunschirm an Foucault: seine Kritik an den Möglichkeiten der Sprache, das unbekümmerte Abbrechen der Betrachtung ohne eigentliches Resultat und die These vom Verschwinden des Betrachters, des Autors und des Werkes.

Seinem Erkenntnisinteresse folgend, leitet Zaunschirm daraus ab, daß in der Kunstgeschichtswissenschaft die Offenheit für den Betrachtungsgegenstand hinter der Autorität bestimmter Autoren und ihrer Denkmodelle verschwindet. Er beklagt die bürokratischen Universitätsstrukturen, polemisiert gegen das Objektivitätsideal und plädiert für mehr Gelassenheit. Das ist nicht neu, kann aber nicht oft genug gesagt werden.

Dem Pessimismus seiner Gegenwartsanalyse („Nur die, die einander nichts zu sagen haben, können miteinander reden“) begegnet Zaunschirm am Ende seines Buches mit einem Ästhetizismus des Spiels. „Die Geschichte ist zum Vergnügen der Historiker da, das ist alles“, zitiert er Paul Veyne, nicht aber um Probleme zu beseitigen. Da er seinem Fach keine gesellschaftliche Relevanz, wie man es 1968 noch genannt hätte, zuschreiben mag, kann der in Freiburg tätige Professor Zaunschirm mit einer Mischung aus österreichischer Nonchalance und postmodernem Beliebigkeitsgestus die Achseln zucken und fragen: „Was sollte es für Probleme in der Kunstgeschichte geben? Versteht man heute etwas, versteht man morgen etwas anderes und vergißt das meiste, was gestern noch so wichtig schien.“ Oder mit Marcel Duchamp: „Es gibt keine Lösungen, weil es keine Probleme gibt.“

Dennoch: Zaunschirm hat ein Problem. In der Einleitung berichtet er davon, daß es ihm bisher nicht gelungen sei, von Fachkollegen für eine Aufsatzsammlung Verrisse anerkannter Meisterwerke zu bekommen.

Thomas Zaunschirm: „Leitbilder – Denkmodelle der Kunsthistoriker oder Von der Tragik, Bilder beschreiben zu müssen“. Ritter-Verlag, 245 Seiten, 60 Abb., 29 DM