Die elternlose Gesellschaft

Macht die Gentechnologie Ödipus endlich den Garaus? Über Claus Kochs Streitschrift zum frohen „Ende der Natürlichkeit“  ■ Von Gerburg Treusch-Dieter

Man stelle sich einen Verurteilten vor, dem der Strang schon um den Hals gelegt ist. Dennoch würde ihn dies nicht an der Erklärung hindern, daß mit diesem Strang – beispielsweise bei einem Hochseilakt – „künstlerische Freiheit“ zu realisieren gewesen wäre. Vorausgesetzt, nicht das Gericht, sondern er hätte über ihn verfügt.

Nimmt man statt diesem Strang das Doppelstrangmolekül der DNS, dann wird plausibel, was unter dem von Claus Koch verkündeten „Ende der Natürlichkeit“ zu verstehen ist: die Verurteilung aller Lebewesen zu einer Manipulation ihrer Gene, die seit 1973 durch das Zerschneiden und erneute Zusammensetzen dieses Moleküls möglich ist. Nichts in Fauna und Flora, Feld und Wald, nichts auf Wiese und Weide oder in der Gesellschaft wird bleiben, wie es war. Die „natürliche“ Erscheinung aller Lebewesen ist in Frage gestellt.

Selbst wenn sich diese Lebewesen phänotypisch nicht von ihren Vorgängern unterscheiden sollten, genotypisch werden sie andere sein. „Nutz“pflanzen und -tiere werden längst zwecks Rohstoff- und Nahrungsmittelproduktion genetisch rekombiniert. Anders gesagt: Sie werden Stück um Stück von innen her „stranguliert“, soweit das „Epochenzeichen“ der Doppelhelix und die durch sie möglich gewordene DNS-Rekombination allen Lebewesen den „Stempel“ der Verurteilung zum „Doppelstrang“ aufprägt. Bezogen auf den Menschen aber, wird dieser „Stempel“ nächstens als „Gründungsdokument“ eingeführt. Seine Form: eine „genetische Identitätskarte“, die befruchteten Eizellen ausgestellt wird, falls sie die extrakorporale Genkontrolle passieren.

Weitergehend wird diese Karte als ein Personalausweis zu benutzen sein, wie er bei jeder Grenzkontrolle üblich ist. Doch nicht nur die Bewegungs-, auch die Lebensfreiheit wird durch diesen „Genompaß“ geregelt werden. Denn sein „Code“, der das „ungeborene“ Leben jener Eizellen ebenso wie das „geborene“ intrakorporal determiniert, bemißt die Lebensspanne, die jeder – Lebenspannen ausgenommen – zur Verfügung hat.

Das heißt, der „Stempel“, der den genetischen Anfang bescheinigt, zeigt auch das genetische Ende an: die endgültige Grenze, den Tod. Die Spanne des „Lebensfadens“, die jeder – sich entwickelnd – abwickeln kann, ist in der Tat zum „Doppelstrang“ eines Ablebens im Doppelsinn geworden. Denn der kartierte Code des Genompasses speichert, wer wieviel Leben zu verbrauchen hat und wer wie in diesem Leben zu brauchen ist, bevor sein kalkulierbarer Tod eintritt. Wer aber wird dieser doppelten, dieser genetischen und sozialen Determinierung gewachsen sein?

Claus Koch hält diese absehbare Aussichtslosigkeit für eine „Chance“. Gegen ihre Fatalität provoziert er zur Selbsteinsicht ins eigene Genom und zur Selbstverfügung über dessen „Doppelstrang“ – ein Aufruf zur Selbstaufklärung und -bestimmung, der zweifelsohne geboten ist, denkt man etwa an das Bundesverfassungsgerichtsurteil gegen den Paragraphen 218 vom Mai 1993, demzufolge alles „ungeborene Leben“ künftig ab ovo generkennungsdienstlich behandelt und, bei „Ausnahmetatbeständen“, zum Tod verurteilt wird. Alles wird „rechtens“ und „natürlich“ zugehen. Obwohl jeder, der auf diese Weise geboren wird, von sich sagen müßte, daß er nicht mehr im alten Sinne „natürlich“ entstanden und sein – aufgeschobener – Tod genetisch vorprogrammiert ist, hätten Selbstaufklärung und -bestimmung die „Chance“, die Claus Koch sich von ihr verspricht.

Dunkle Mächte stehen dem entgegen. Der Tod, den längst die invisible hand der Gen- und Reproduktionstechnologie an sich gerissen hat, sei noch immer in Gottes Hand, glauben die Anhänger der Bioethik, die damit der Wiederaufrüstung einer paulinischen Moral zuarbeiten. Während eine „alt gewordene Emanzipation“ ihre Zuflucht im Rousseauismus sucht, wo noch immer die „Natur“ heimholt. Claus Koch fordert dagegen, Tod und Leben ab jetzt selbst in die Hand zu nehmen; der Genompaß in der Tasche soll zur radikalen Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit verhelfen.

Denn gegenüber diesem Genompaß, der kaum mehr ein Überleben, der nur noch ein Ableben zuläßt, hat die Notwendigkeit des blinden Zufalls ebenso ausgedient wie Schöpfungsmythen und Mythenschöpfungen, die ihn göttlich oder natürlich legitimieren. Durch beides wird die Selbsteinsicht ins eigene Genom verstellt. Angesichts der fast abgeschlossenen Human-Genom-Projekte der USA, Japans und Europas erscheint sie aber dringlicher denn je. Paulinisch-moralische Vorwärtsverteidigung und rousseauistische Regression streuen statt dessen Sand in die Augen.

Beide sind in einem auf das „Natur-Gesetz“ sich berufenden Evolutionsbegriff vereint, ohne daß ihre bioethische Offensive hier, ihre defensive Bioenergetik dort sich dem Biologismus stellen würden, der nicht nur sie fundiert, sondern der auch der „Zwangsverklammerung“ von Staat und Familie zugrunde liegt. Hier wird die „Natur“ der Gesetze des Staates gegen die Biotechnologie beschworen, dort die „gesetzmäßige“ Natürlichkeit der Familie. Als ob dieser allgemeine Biologismus durch die Biotechnologie, die aus ihm historisch und wissenschaftlich resultiert, bedroht werden könnte.

Gegen diesen Konsens von Köchen, deren Brei ein immer schon verdorbener ist, richtet sich Claus Kochs Dissens. Leider rührt er dabei ein eigenes Süppchen an, dessen Rezept ebenfalls in Frage steht. Denn er führt den biologistischen Konsens auf die jüdisch-christliche Tradition zurück, gegen deren Übel die griechisch-pagane Tradition als unverdächtiges Kulturgut wiederzugewinnen sei.

Hat doch der lustige Zeus der Griechen, der sich nach Koch so wohltuend vom dräuenden, jüdisch-christlichen Gott unterscheidet, bereits als „Leihmutter“ fungiert, als er Dionysos in seinen Schenkel nähte, um ihn zum zweiten Mal zu gebären (die erste Geburt wird von seiner dabei in Flammen aufgehenden Mutter Semele geleistet). Mag sein, daß die Strukturanalyse von Schöpfungsmythen nicht Claus Kochs Sache ist, obwohl er ihre Mythenschöpfungen gerne zwecks Entmystifikation der „Evolution“ zitiert. Wie dem auch sei, er verbrennt sich die Zunge da, wo er Dionysos' erste Geburt ebenso negiert, wie es der lustige Zeus tat, der bei dieser Unterschlagung des Weiblichen dem jüdisch- christlichen Gott in nichts nachsteht. Denn die zweite, die metaphysische Geburt Dionysos' durch Zeus, die von der Physis Semeles abstrahiert, entspricht der Schöpfung aus dem Nichts des jüdisch- christlichen Gottes, auf die Claus Kochs Polemik abzielt. (Darum werden ja „Leihmutterschaft“ und „künstliche Gebärmutter“ von ihm so emphatisch gefeiert.)

Was er jedoch in seinem – bis ins aufklärerische Herz hinein – technikgläubigen Optimismus affirmiert, ist ein Effekt dessen, daß in der jüdisch-griechisch-christlichen Tradition die Zeugung – bei Negierung des Weiblichen – der physischen Geburt metaphysisch vorgeordnet wird. Seither reißen die Schöpfungen aus dem „Nichts“ der männlichen Selbsterzeugung, mittels Wissen und Technik, nicht ab. Verschwiegen bleibt auch bei Claus Koch, daß sie immer Schöpfungen aus dem „Etwas“ waren: aus dem mit der Materie gleichgesetzten Weiblichen, das eine äußerste Instrumentalisierung bis hin zur technisch möglichen Ersetzung der „Gebärmutter“ erfuhr.

Soweit diese Schöpfungen von dem abstrahieren, woraus sie schöpfen, kommt diese Entwicklung heute auf den Punkt. Er wird von Claus Koch hinsichtlich seiner genetischen Zukunftshypothek erkannt, doch hinsichtlich seiner genealogischen Vergangenheitsverschuldung – in der Konsequenz aufklärerischer Fortschrittsfreudigkeit – verkannt. In der „Neulast“ ist die „Altlast“ jedoch mit ausgesprochen; die Instrumentalisierung des Materie- Weiblichen kulminiert im Begriff der „Natur“, der sich wissenschaftlich zur Biologie, gesellschaftlich zum Biologismus, technologisch zur Molekularbiologie transformiert. Das „Ende der Natürlichkeit“ ist darum in erster Linie das Ende des Materie-Weiblichen mit dem paradoxen Effekt, daß damit auch das Ende des Männlichen erreicht ist. Der genetische Code der Molekularbiologie signalisiert dieses Ende der Geschlechterdifferenz.

Ab hier kann übrigens wieder mit Claus Koch weitergemacht werden, der, ausgehend von diesem „Jenseits“ der Geschlechterdifferenz, das „Ende der Genealogie“ demaskiert, das niemand wahrhaben will – ob das „Natur- Gesetz“ der Evolution regressiv oder restaurativ eingeklagt, ob es als „Schoß“ oder „Patrimonium“ gehandelt wird.

Derweilen wird die biologistische Emblematik der „Bluts- Bande“ der Familie, die jeden Rassismus zu verantworten hat, von Staats wegen in dem Maße remystifiziert, wie sie – hier ist noch einmal auf das BVG-Urteil zu verweisen, das die gen- und reproduktionstechnologische Trennung von Mutter und Kind dekretiert – von Staats wegen durchschnitten sind. Doch vom Schutz des „ungeborenen Lebens“ kann dabei nicht die Rede sein. Statt dessen wird es in der Form des „ungeborenen“ Genoms zum potentiellen Rechtssubjekt erhoben, das künftig für alle „Geborenen“ als Modell ihrer genetischen Identität fungiert.

Alle die Biotechnologie beschränkenden Gesetze – dies pointiert Claus Koch zu Recht – entschränken sie zugleich. Soweit in diesem Sowohl-Als-auch die staatliche Ohnmacht in erster Linie sich darin manifestiert, daß ihr die „Keimzellen“ der Familie gen- und reproduktionstechnologisch aus der Hand genommen sind, schlägt diese Ohnmacht in einen den „totalitären Zug“ der Biotechnologie verstärkenden, staatlichen Machtanspruch um – genau da, wo er nichts mehr zu sagen hat. Denn das Sagen – richtiger: das Voraus-Sagen – hat inzwischen die prädiktive, mit den Human-Genom-Projekten weltweit vernetzte Medizin.

Ihre staatlicherseits legitimierte „Einstiegsdroge“ ist die pränatale Diagnostik, die man, anders als „Leihmutterschaft“ und „künstliche Gebärmutter“, nach Claus Koch hätte verbieten sollen. Denn sie ist es, die mittels präkonzeptioneller Genkontrolle samt Gentherapie, der auch die Geschlechtsvorherbestimmung subsumiert werden kann, die Prädisposition jeder präfötalen genetischen Identität bioprognostiziert, woraus sich alles weitere zwischen Wiege und Bahre ergibt.

Daß seitens der um ihre Sterilität oder Fertilität bangenden Eltern (die nurmehr soziale, biologische oder genetische sind), daß von diesen partialisierten, mittels der staatlichen „Homologie“regel ihre Maske wahrenden Eltern, die längst „Genpool“ in sozialen und biologischen Verkleidungen spielen, noch irgendeine Spielverderberei zu erwarten sei, hält Koch angesichts ihres besitzindividualistischen „Kinderwunsches“ samt „Gendesign“ für ausgeschlossen.

Dennoch setzt er auf drei Blockierungen dieses „perversen Systems“. Erstens müsse die staatlich geschminkte Elternmaskerade außer Kraft gesetzt werden durch eine neue, elternlose Gesellschaft. Ihr soll ein „neuer Mensch“ entsprechen, der vor allem durch Selbstaufklärung und -bestimmung über das eigene Genom ausgezeichnet und darum frei von zwanghafter Identitätsbildung ist, kurz, superfrei von dunklen, ödipalen Komplexen.

Zweitens steht durch die Determinierung von Leben und Tod für Claus Koch das staatliche Versicherungswesen in Frage, dessen gewinnträchtige Wohlfahrt bankrott machen könnte, wenn erst der blinde Zufall nicht mehr als Risiko interveniert. Sollte diese Wohlfahrt aber, anstelle fehlender Zu- und Unfälle, jeden einzelnen genetischen Grenzwert versichern, der eben noch die präkonzeptionelle Kontrolle passierte, dann liefe dies auf einen „durchseuchten Volkskörper“ hinaus, dessen Gesundheitsvorsorge eine Vollzeitbeschäftigung wäre, die sich am Ende die Versicherten und die Versicherer nicht leisten könnten. Denn bei genmustergültigen Lebensspannen wären die Gewinne dahin.

Drittens ist auch seitens der Biotechnologie auf eine Blockierung zu hoffen, die ihren „totalitären Zug“ ad absurdum führt. Schon jetzt besteht zwischen den Human- Genom-Projekten der USA, Japans und Europas ein Forschungs- und Handelskrieg, der zur Patentierung von DNS-Abschnitten führt, noch bevor bekannt ist, was sie codieren. In dem Maße aber, wie nicht mehr die Erfindung, sondern die Entdeckung als bloße Kriegsbeute für die Patentierung ausschlaggebend ist, wird nicht nur die Grundlagenforschung stagnieren, sondern auch ihre Anwendung unbezahlbar werden. Die florierende Biotechnologie entzöge sich selbst den Boden. Ihre „totalitäre“ Expansion wäre gestoppt, die auch für Claus Koch gesundheitspolitisch nichts als Eugenik ist.

Er tritt, obwohl er als optimistischer Selfmademan bis ins Herz hinein technikgläubig ist, dieser Technologie entgegen, indem er sie zu wenden, die Reaktion auf sie in Aktion zu verkehren sucht, um dabei „Vorurteilskritik“ – nicht nur den Genompaß, sondern auch Diderot in der Tasche – aufklärerischen Stils zu betreiben. Den Strang um den Hals, plädiert er für einen „Doppelstrang“-Hochseilakt mit geklonten Hermaphroditen, die in der kommenden, elternlosen Gesellschaft, Egalität und „künstlerische Freiheit“ der Lebensführung – inklusive Selbsttötung – realisieren. Dementsprechend mündet das „Ende der Natürlichkeit“ angesichts dessen, daß für Claus Koch „eine Schimäre das Natürlichste der Welt ist“, in dem Credo: genmanipulatio – ergo sum.

Claus Koch: „Ende der Natürlichkeit. Eine Streitschrift zu Biotechnik und Bio-Moral“. Hanser-Verlag, 200 Seiten, geb., 29,80 DM