Jetzt mal ganz von Frau zu Frau

Geh weg, bleib hier! Nina Lekanders Roman, ein u.a. lustiges (!) Handbuch für den Geschlechterkampf  ■ Von Elke Schmitter

Es ist ja gar nicht einfach, über die Liebe zu schreiben, denn wenn man verliebt ist, dann ist man vornehmlich damit beschäftigt, und wenn es vorbei ist, geht es erst recht nicht mehr – was übrigens in beinahe derselben Schärfe auch fürs Lesen gilt. Andererseits sind gerade die Liebesgeschichten, die auf Unmittelbarkeit beruhen – und nicht die Läuterung der literarischen Erzählung erfahren haben, in der die Unordnung der Liebe zu einem ,richtigen Buch‘ geronnen ist –, jene, die unseren gutartigen Voyeurismus hervorrufen, weil sie in ihrem schwankenden, rohen, sich scheinbar selbst überraschenden Berichtsmodus einem gefundenen Tagebuch ähnlicher sind als einem gekauften Roman. Wie in der Aufzeichnung nur für sich selbst oder im Gespräch mit der besten Freundin geht alles durcheinander: die Beschreibung von Gefühlszuständen wird unterbrochen vom Protokoll der Tatsächlichkeiten (,und dann sind wir zu mir gegangen, obwohl meine Wohnung aussah wie nach einem Attentat, aber das war mir lieber, als bei ihm in der WG irgendeinem Unrasierten morgens im Badezimmer zu begegnen‘), die Reflexion auf die Motive (,Du weißt ja, daß es mich immer nervös macht, wenn einer sofort auf seine Mutter zu sprechen kommt‘) durchstoßen von einer Metapher, die wie ein großer, ungelenker Vogel aus lichter Höhe in die Rede stürzt. Wie bei der Lektüre eines Tagebuchs ist man auf Vermutungen verwiesen, auf Ergänzungen der Phantasie, was die Charakteristik der Akteure und den Gang der Handlung betrifft, und wie im richtigen eigenen Leben verschwinden selbst die Hauptpersonen in einem Gewoge von Stimmungen, von Kontingenzen befleckt und gefärbt. Entschädigt wird man, wenn es glückt, für diesen Pointillismus durch jene poetische und zugleich rigorose Plötzlichkeit, die dieser (Kunst-)Form eigen ist (denn womöglich ist ja gerade die Unmittelbarkeit das verlogenste Genre überhaupt): und bei Nina Lekander schließlich ist das geglückt.

Unsere Hauptfigur lebt, wie die Autorin, in Stockholm und ist in jenem Niemandsland des Single-Alters angesiedelt, in dem die Jugendlieben überwunden sind und die großen Entscheidungen anfangen sollen, also vermutlich um die Dreißig. Sie taumelt im Bedarfsfalle durchs Nachtleben, um ihre libidinösen Bedürfnisse zu erfüllen, und findet doch jenen Vorrat an Unerfüllbarkeiten in sich vor, welcher der romantischen Liebe zuzurechnen ist: daß es einen Menschen geben müsse, dem man sich rückhaltlos anvertrauen kann, der die Schwäche des anderen erträgt (das entsprechende Adorno-Zitat bleibt uns erspart), der Nähe sucht, ohne tyrannisch zu werden, der erotisch bleibt, souverän in seiner Heiterkeit ist und tief in seinem Ernst... also eine Art Woody-Rick und insofern das, was wir alle wollen. Und sobald sie diesen Menschen gefunden hat, leert sie ihren Zettelkasten über ihm aus. „,Liebst du mich? Werden wir zusammensein, bis wir sterben?‘ ,Ich dachte, du glaubst nicht an die Zweierbeziehung. Du sagst doch immer, das sei eine alte patriarchale Institution, die nicht funktioniert und in der die Frauen die Verlierer sind.‘ ,Ja, ja, aber das ist nicht das, wovon ich spreche. Ich frage nur, ob du mich liebst und ob wir zusammensein werden, bis wir sterben. Auf eine Art. Oder mehrere.‘“

Jawohl, die Hauptperson findet ihr Gegenstück, und sie fallen in die Liebe so rückhaltlos hinein, wie es sich gehört, mit allem, was dazu gehört: „Dann standen sie auf und lasen sich Gedichte vor und schrieben Gedichte füreinander; irgendeine Formgebung verlangt jeder Zustand.

Darf ich deine schokoladegetränkten Hände essen, wie ein Gott ein Kompott ißt, wie ein König vom Honig ißt, wie graue Himmel Preiselbeeren werfen, schrieb er ihr.

Und sie schrieb GELIEBTER – ein klebriger Apfelbiß (schmatz) in dich mein Geliebter (Schuft) kann auch nach dem Meer riechen (platsch) in dir mein Geliebter, kann auch eine Begegnung mit deinem (ätsch) sein, wenn wir (sumpf) machen, GELIEBTER.“ So könnte es fort und fort gehen, wenn es nicht ginge wie immer. Denn ihre Hingabe macht ihn ängstlich, und seine Angst macht sie fordernd, und ihre Forderungen machen ihn schweigsam, und sein Schweigen macht sie furchtsam, und ihre Furcht macht sie rebellisch, und ihre Rebellion macht ihn tyrannisch, und aus all den langen Selbsterklärungen, die sie flüsternd und wispernd und zärtlich getauscht, werden zum Schluß gestanzte Sätze, die an den Liebenden kleben bleiben wie Preisschilder auf Papier. „,Friß mich nicht auf‘, sagte er. ,Verlaß mich nicht‘, sagte sie.“ Aber genau das tut er.

Das will gründlich vorbereitet sein, und es verläuft in Stockholm offenbar nicht anders als in London, Madrid und Berlin, so daß man nach all der Zeit (sog. sexuelle Revolution, Frauenbewegung, 1968 etc.) wieder geneigt ist, an die Hormone zu glauben, die dem Weibe den Wunsch nach Nähe und dem Manne den nach Autonomie geben, naturgemäß verbunden mit der Überzeugung, dieselbe und die Hingabe schlössen einander aus. Und wann ist man mehr bei sich als im Schlaf? „Als wäre nichts geschehen, schlief er auf der Stelle ein. Als wäre alles geschehen und alles für immer in Schutt und Asche gelegt, lag sie wach und wälzte sich stundenlang, obwohl sie wußte, daß er sie hörte mit ihren Grillhähnchenbewegungen und daß er sie als weitere Forderungen und Vorwürfe verstehen würde. Sie wollte es, und sie wollte es wieder nicht.

,Rede, rede, REDE!‘ schrie sie ihn an.

,Es tut mir wahnsinnig leid, aber ich kann nicht‘, sagte er. ,Ich fühle nichts, ich bin wie aus Stein.‘“

Wenn das nun alles wäre, dann wäre es furchtbar, aber weil die Geschichte nun einmal in den achtziger Jahren spielt und die Protagonistin genügend erfahren und selbstbewußt ist, um Frauen als Gegenüber zu schätzen, nutzt sie deren Selbstbewußtsein und Erfahrung, um sich nicht völlig zu verlieren. Denn immerhin gibt es die Frauenabende in der Stockholmer Szene, und dort ist etwas beheimatet, was ohne dramatische Erhöhung auch Liebe genannt werden kann. Die Mitteilung von Erlebnissen und die überraschende Feststellung, daß eben diese weniger ungewöhnlich sind, als ihre Protagonistinnen meinen, muß nämlich keine narzißtische Kränkung sein – sondern kann säkularisieren, ohne zu demütigen, und kräftigen ohne Größenwahn. „Wenn die Männer einen verlassen, will man sich umbringen, doch wenn die Frauen das täten, würde man von alleine sterben.“ Und sie stirbt ja auch nicht, als sie verlassen wird, dafür war dieser Tod – denn doch – zu lange angekündigt. Den Ritter, der da vor ihr stand, in einer Rüstung, die statt des Sehschlitzes nur einen zum Sprechen übrigließ, nicht mehr durch Liebe erreichbar und bereit, alles zu vernichten, was weich und wehrlos und einmal auch sein eigen war, den kannte sie ja. Was bleibt, ist Sehnsucht „in alles umhüllenden Schleiern, dünn wie Tüll, aber fest wie Engelstuch und zäh wie Kaugummi“. Und obwohl dies nicht mehr geschrieben wird, dürfen wir annehmen, daß die Geschichte sich wiederholt, denn trotz der Reflexivität ihrer Erzählung haftet derselben nichts Pädagogisches an: Mag sein, daß es ,historische Strukturen‘ sind, aber was hilft das dem Individuum?

Man wird es unschwer gemerkt haben: dies ist eine Empfehlung. Wem gelingt es schon, den Kitsch zu vermeiden und dennoch poetisch zu sein, eine bekannte Geschichte zu erzählen und doch zu überraschen, und wer verbindet schreibend so lebendig das schöne Akzidentelle mit der schlechten Substanz? Die Autorin ist ihren Personen so freundlich verbunden, daß sie aus ihnen keine literarischen Figuren machen will, und gerade ihre Zuwendung zum Alltäglichen bewahrt sie vor der Banalität. Hier steht nicht ,Achtung, Kunst!‘ auf jeder Seite, und das ist die Rettung vor dem Kunstgewerbe, das zu beklagen, wenn wir dazu Lust und Zeit hätten, allerweil genügend Anlaß ist in der Gegenwartsliteratur... Lekander gelingt mit ihrem Buch eine würdige Paraphrase auf eine Heine-Strophe von 1822, die eben nicht zu übertreffen, sondern nur zu paraphrasieren ist: Es ist eine alte Geschichte / Doch bleibt sie immer neu / Und wem sie just passieret / Dem bricht das Herz entzwei.

Nina Lekander: „Mund zu Mund. Szenen von Distanz und Nähe“. Roman. Aus dem Schwedischen von Stefanie Ender. (Die Rezensentin, des Schwedischen zwar ohnmächtig, aber des Deutschen nicht ganz, gibt zu Protokoll, daß das Buch wunderbar übersetzt zu sein scheint.) Klein Verlag, gebunden, 138 Seiten, 29,80 DM