Springteufel

Vilém Flusser erklärt, wie das Böse in die Geschichte kam und warum seither alles schiefläuft  ■ Von Martin Pesch

Spät oder wie in diesem Fall gar postum veröffentlichten Erstlingswerken wird meist eine außerordentliche Bedeutung zugemessen. Unvermeidlich, daß auch hier der Verlag vom „wichtigsten Schlüssel“ redet, den dieses Buch für Vilém Flussers Gesamtwerk darstelle. Einen Schlüssel zu Flussers Werk zu besitzen ist aber ungefähr so reizvoll wie immer wieder in denselben Fluß zu steigen.

Dieses Buch wurde in deutscher Sprache verfaßt und erschien 1965 in Brasilien, wo Flusser, der 1920 in Prag geboren wurde, lange Zeit lebte, bevor er Anfang der 70er Jahre nach Europa zurückkehrte. Die Diskussion um und die philosophische Auseinandersetzung mit den Neuen Medien bekam durch Flusser entscheidende Anstöße – er sah in dieser Thematik die Chance, das auf Ordnung und Linearität ausgerichtete Denken zu überwinden. Da er nie zur akademischen Normalität gefunden hat (was er wohl auch nicht wollte), war er ein gerngesehener Gast auf Symposien und Kongressen, bei denen das Cross-over zwischen Philosophie und manchem anderen geübt wurde. Jede avancierte Zeitschrift, die auf sich hielt, mußte mindestens ein Interview mit ihm führen. Das nährte aber auch Unbehagen gegenüber einer Rezeptionskultur, in der bestimmten Autoren bloß durch das Umfeld, in dem sie bekannt werden, ein Underground-Bonus zufällt.

Kant war es, der in der Geschichte der Menschheit eine Naturabsicht entdeckte, die auf die Vervollkommnung menschlicher Vernunft, das Unterscheidungsvermögen zwischen dem Streben nach dem eigenen Glück und dem Pflichtbewußtsein, zielt. Die Unterscheidung geht auf den Umstand zurück, daß der Mensch „aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“ getreten ist. Mit dieser „Freiheit“ kam die Sünde in die Welt, es wurde aber auch der Gang der Geschichte vom Bösen zum Besseren denkbar.

„Die Geschichte des Teufels“ – diesem Titel, den Flusser seinem Buch gegeben hat, ist eine Ähnlichkeit zu Kants Gedankengang anzusehen. Anhand der sieben Todsünden (Wollust, Neid, Völlerei etc.) wird der Stand der Emanzipation des Menschen durchleuchtet. Und damit sieht es erwartungsgemäß nicht gut aus. War der „bessere“ Zustand in Kants Teleologie schon vorgegeben, ist bei Flusser alles in einem Kreislauf gefangen – und diesen Kreislauf gibt die Sprache vor: „Vom Standpunkt der Sprache ist der Mensch nichts als ein winziges Durchgangstor für die vorwärts marschierenden Worte.“ Das Verständnis von Wirklichkeit unterliegt einem radikalen Wandel; Kants „Natur“, aus deren Schatten der Mensch tritt, ist als solche nicht mehr zu denken und also auch nicht eine von ihr ausgehende Entwicklung. „Natur“ ist von vornherein ein sprachlich, das heißt gesellschaftlich produziertes Konstrukt – die mit ihr mythisch verbundene „Unschuld“ wird bei Flusser zum Treppenwitz der Geschichte des Teufels. Uns bleibt lediglich (wie auch der Autor im Nachwort für sich feststellt), „etwas bescheiden“ zu werden hinsichtlich unserer Möglichkeiten.

Befremdlich an diesem Buch ist die Orientierung des Flusserschen Gedankengangs an alttestamentarischen Motiven. Einerseits gibt dies dem Autor die Möglichkeit zu einer – hier witzigen, dort nervigen – Apodiktik; andererseits nutzt Flusser den durch Jahrtausende hindurch geschleppten Gehalt, der in der Vorstellung der „Todsünden“ steckt, um ihm gegenüber einen Perspektivenwechsel (über-)deutlich zu machen. Darin liegt ein heute nur noch schwach spürbarer Rest von Provokation, der vor 30 Jahren, als dieses Buch entstand, vielleicht mehr als ein Lächeln auslöste.

Wen also das grundlegende Vokabular dieses Buches stört, kann immer noch versuchen – und dafür gibt es genügend Gelegenheiten – das herauszusuchen, was für sie/ ihn interessant ist. Zum Beispiel wird als der Beginn aller teuflischen Aktivitäten die dem Menschen als Notwendigkeit erscheinende Wissenschaft beschrieben: „Es kann unseren wissenschaftlichen Pontifices niemals gelingen, die einzige ,wirkliche‘ Brücke zu schlagen, nämlich die Brücke vom Ding zum Symbol.“ Alle wissenschaftliche Anstrengung, die letztlich dem „Ding“ gilt, wird diesen „Ursprung“ nie überwinden können. Deswegen ist alle Technik Teufelszeug: „Man nimmt Steine und Pflanzen und Erdöl und menschliche Arbeit und dehydriert sie zu mathematischen Symbolen und läßt sie die eisigen Brücken auf- und niedergleiten und schleudert das ganze Gemengsel dann zurück in die sinnliche Welt, und siehe, o Wunder der Wunder, es ist ein Auto entstanden.“

Bei einem Autounfall kam Vilém Flusser vor zwei Jahren ums Leben.

Vilém Flusser: „Die Geschichte des Teufels“. Verlag European Photography. 200 Seiten, 48 DM