: Wer marschiert wann wo mit wem?
Der Bundeskanzler will die Verabschiedung der Alliierten entmilitarisieren / Etikette-Streit auch um die Teilnahme Kohls an den Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der Normandie-Invasion ■ Von Dieter Rulff
Berlin (taz) – Den Bundeskanzler plagen bisweilen die gleichen Sorgen wie Hertha-Trainer Uwe Reinders. Vor der schier unlösbar erscheinenden Aufgabe, das weite Rund des Berliner Olympiastadions zu füllen, kapituliert der eine wie der andere. Doch während Reinders sich in sein Schicksal fügt und seine Mannen auch vor leeren Tribünen spielen läßt, hat Helmut Kohl nun den Rückzug angetreten: die ursprünglich für den 8. September im Stadion geplanten Feierlichkeiten zur Verabschiedung der Westalliierten wurden abgesagt. Die Veranstalter trieb die Angst, daß die Berlinerinnen und Berliner, trotz der vielbeschworenen Verbundenheit mit ihren Schutzmächten, der Abschiedszeremonie einfach fernbleiben könnten. Ein „militärisches Brimborium“, so war aus der mitplanenden Berliner Senatskanzlei zu erfahren, wird es im Olympiastadion nicht geben. Doch auch eine Parade durch die Stadt wurde mittlerweile gestrichen. Dabei hatten sich die Westalliierten bereits darauf gefreut, endlich zu tun, was ihnen vierzig Jahre lang verwehrt blieb: Sie wollten zu ihrem Abschied noch mal durchs Brandenburger Tor marschieren. Bei den Streitkräften keimt wegen dieses erzwungenen Pazifismus Ärger auf. Und im Berliner Senat ist man verstimmt, weil die eigenen Pläne über den Haufen geworfen wurden. Seit Kohl die Verabschiedung der Alliierten zur Chefsache erklärt hat, herrscht zwischen Berlin und Bonn Funkstille.
Kohls plötzliche Abneigung gegen das „militärische Brimborium“ ist nicht nur der Angst vor dem womöglich ausbleibenden Publikum geschuldet. Er will nicht die Westgruppe der russischen Streitkräfte (WTG) animieren, es den Kollegen aus den westlichen Sektoren gleichzutun. Denn eine russische Parade, so weiß man im Kanzleramt, sei eine „äußerst delikate Angelegenheit“. Immerhin rufe die russische Anwesenheit in der Bevölkerung andere Gefühle hervor als die der drei westlichen Alliierten. Und auf diese Gefühlslage will der CDU-Vorsitzende im Wahljahr Rücksicht nehmen. Der letzte russische Soldat soll am 31. August das Land verlassen, die Alliierten feiern dann im September unter sich. Der Oberkommandierende der WTG, Matwej Burlakow, fühlte sich durch diesen Zweiklassenabschied bereits düpiert. Dieser „wichtige Akt auf staatlicher Ebene“, fand er, könne auch gemeinsam begangen werden. Dagegen sprechen sich nicht nur die deutschen Offiziellen aus, sondern auch die westlichen Alliierten.
Erst vor zwei Wochen unterbreitete das Kanzleramt den westlichen Verbündeten die reduzierte Festplanung. Sollte sie deren Wohlwollen finden, wird man noch Ende der Woche erfahren, wer wann wo unter wessen Banner mit wem marschiert. Es wird höchste Zeit, das Geheimnis um die Chefsache zu lüften. In der Berliner Senatskanzlei wird man allmählich nervös, denn Rußlands Präsident Boris Jelzin will bei dieser Gelegenheit zweimal nach Deutschland kommen, Mitte Mai und Ende August. Erste Festvorbereitungen müßten alsbald getroffen werden. Jelzin dürfte kaum davon angetan sein, lediglich in kleinem Rahmen beim Abflug seines letzten Soldaten in Deutschland zugegen zu sein. Der russischen Seite schwebt zumindest eine große Gedenkfeier am zentralen Ehrenmal der Roten Armee in Berlin-Treptow vor.
Eine Teilnahme Kohls entspräche zumindest der Vorgabe, die sein Sprecher Dieter Vogel erst vor wenigen Tagen formuliert hat. Vogel geht davon aus, „daß die Bundesrepublik überall dort vertreten werden soll und vertreten werden kann, wo Kriegstote und Opfer des Nationalsozialismus gewürdigt werden und ihrer gedacht wird“. Zu dieser Trauer-Leitlinie sah sich Vogel veranlaßt durch die plötzliche Absage einer gemeinsamen Gedenkfeier von Verteidigungsminister Rühe mit seinem französischen Kollegen François Léotard auf dem deutsch-französischen Soldatenfriedhof bei Lisieux in der Normandie. Das Gedenken war von den Franzosen abgesagt worden, weil dort auch Angehörige der Waffen-SS ruhen. Der Affront fand Verständnis. Eingedenk der Bitburg-Erfahrung ahnte Vogel, „was aus der Geschichte herauskommt. Es wird dann nur noch über SS-Soldaten-Gräber berichtet, aber nicht über den ernsthaften, eigentlichen Anlaß eines solchen Totengedenkens.“
Die Normandie bildet auch die Kulisse eines zweiten Etikette-Streits. Seit Wochen währt bereits das Gezerre um die Teilnahme Kohls an den Feiern zum fünfzigsten Jahrestag der Normandie-Invasion. Entsprechende Ambitionen werden dem Kanzler so hartnäckig nachgesagt, wie sie von ihm dementiert werden. Kohl, so Sprecher Vogel, „wolle dort nicht hin“. Gleichwohl wird die verordnete Entmilitarisierung der Berliner Abschlußfeiern von Beteiligten als die typische Antwort des Kanzlers auf die ausgebliebene Einladung in die Normandie interpretiert. Womöglich erfährt Kohl noch Genugtuung. Gestern überbrachte der Bürgermeister von Caen, Jean- Marie Girault dem deutschen Botschafter in Paris, Jürgen Sudhoff, eine Einladung für den 6. Juni. Diese sei für Kohl bestimmt und gelte zwar nicht für die Zeremonie an der Omaha Beach, dort bleiben die Ex-Invasoren unter sich, wohl aber für einen abendlichen Friedensmemorial. Dort sei es, so Girault, „natürlich, daß man sich die Hand reicht“.
Sudhoff erklärte gestern, die Offerte gelte nicht Kohl, sondern ihm, dem Botschafter, derweil überlegte man im Kanzleramt noch, wie auf diese Handreichung zu reagieren sei. Die Einladung entspräche zumindest der eigenen Teilnahmevorgabe: Nachvollzug militärischer Kämpfe nein – Gedenkteilnahme ja. Dementsprechend habe der Kanzler bereits den Feierlichkeiten zur Befreiung Kretas nur zum Teil beigewohnt. Und an diese Vorgabe werde er sich auch bei den Fünfzig-Jahr-Zeremonien zum Ende des Zweiten Weltkrieges halten. Doch an denen nimmt er als Bundeskanzler womöglich nicht mehr teil.
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