Obdachloser verendet

■ ÄrztInnen gibt's genug, aber welcher Obdachlose geht von alleine hin?

„Das ist vom Sachverhalt her so grausig, da machen wir keine schriftliche Pressemitteilung von“, sagt Rolf Pestrup von der Polizeipressestelle. Am Donnerstag abend gegen 20.10 Uhr nämlich brach ein 31jähriger Obdachloser in einem Gebüsch zwischen Lloydtunnel und Bürgerweide in seinen eigenen Exkrementen zusammen. Angeblich soll er sich schon den ganzen Tag über erbrochen haben. Woran er gestorben ist, ermitteln nun die Gerichtsmediziner.

Geholfen hat ihm offenbar niemand. Die Frau von der Bahnhofsmission faßte sich gestern ans Herz, als sie von dem Tod erfuhr: „Das macht mich ganz betroffen, davon haben wir gar nichts mitgekriegt.“ Der dicke Wachmann mit hellblauer Mütze hat auch niemanden gesehen: „Wir sind außerdem nur für den Innenbereich zuständig.“ Und auch die Kumpels, die sich wegen der patrouillierenden Wachleute derzeit lieber unter den Rathausarkaden treffen, wissen nichts: „Vielleicht war's der Peter“, sagt einer, „der hatte doch immer Magenkrämpfe“. Meist erfahren sie erst viel später, wenn wieder „einer von uns abgegangen ist“. Denn meist riegele die Polizei erstmal alles ab.

Zur Zeit sterben viele, sagt ein 42jähriger, der wie 55 aussieht und sich Hundehannes nennt. Grad letzte Woche Willi, 59 ist er geworden. Oder Kai, der wurde nur 24, aber darüber will Hundehannes nicht reden. Hundehannes trägt seinen Krankenschein immer bei sich. Den bekommt er vom Sozialamt. Hat er noch keinen neuen, spaziert Hundehannes auch mal einfach so ins Ärztehaus am Rathausmarkt und läßt sich seine Schwären am Arm salben und verbinden. Den Schein reicht er nach.

Doch Hundehannes ist eine Ausnahme. Meist gehen die Obdachlosen viel zu spät oder gar nicht zum Arzt, weiß zum Beispiel Louis-Ferdinand von Zobeltitz, Pastor der Stephani-Gemeinde und engagiert in der Obdachlosenhilfe. Obdachlose geben sich oft völlig auf, nehmen dann auch keine Alarmzeichen mehr wahr, offene Wunden zum Beispiel oder blutigen Auswurf. Viele seien ohnehin nicht mehr fähig, etwas zu wollen, zu planen und dann auch noch zu tun.

„Sicher, wir haben gute stationäre Angebote in Bremen, zum Beispiel das Jakobus-Haus“, sagt Pastor von Zobeltitz, „aber was total fehlt, das ist ein angemessenes Streetworkerprogramm“. Im Brilltunnel, in der Bischofsnadel, unter den Rathausarkaden, auf Spielplätzen in Gröpelingen, Walle und Huchting – dort und noch an vielen anderen Stellen in der Stadt treffen sich Obdachlose regelmäßig. „Dort saufen sie sich zu Tode – aber die kämen nie auf die Idee, sich Hilfe zu holen“, sagt der Pastor. „Alle Angebote sind darauf ausgerichtet, daß die Leute sich selbst informieren, Eingeninitative an den Tag legen, aber die hat keiner mehr.“

Anderer Meinung ist das Sozialressort. Die Sozialdienste, die Innere Mission mit ihren Tagesstätten und all die anderen Einrichtungen hätten einen „guten Überblick“ über den Gesundheitszustand der Obdachlosen, findet Wolfgang Beyer, Sprecher der Sozialbehörde. Streetworker für Obdachlose, nee, sowas brauche man nicht in Bremen. Außerdem würden „aufsuchende“ ÄrztInnen wahrscheinlich gar nicht angenommen.

Kurt Huuk, Leiter des Sozialzentrums der Inneren Mission, greift in dramatischen Fällen von Selbstvernachlässigung zu einem rigiden Mittel: Scheinen die BesucherInnen des Jakobus-Hauses ansteckende Hautkrankheiten oder gar TB zu haben, werden sie per gerichtlicher Anordnung einem Arzt oder einer Ärztin vorgeführt. Doch das sind seltene Fälle.

Dennoch sieht er in „aufsuchender Arbeit“ keine Lösung. Zum einen seien Wohnungslose in diesem Zustand fast nie dazu zu bewegen, „einen Medizinmann“ aufzusuchen. Zum anderen hätten auch Wohnungslose noch einen Rest Selbstverantwortung. „Ich bin nicht der Ansicht, daß man jedem hinterherrennen sollte und solange an ihn hinschwätzen, bis er sein offenes Bein oder seine Tuberkulose behandeln läßt“, sagt Huuk. Das Argument des Pastors, daß Obdachlose oft gar nicht mehr in der Lage wären, sich selbst Hilfe zu suchen, läßt Kurt Huuk nicht gelten: Schließlich würden sie es ja geregelt kriegen, sich kostenloses Essen oder Kleider zu organisieren.

Wenn jemand mit 200 bei Regen gegen Baum fahre, sage man schließlich auch, das hätte er wissen können, daß das lebensgefährlich ist. „Und wenn ein Obdachloser mit seinen offenen Hufen draußen rumläuft oder Blut spuckt, ist das dasselbe.“ Christine Holch