Village Voice
: Die Stille komponieren

■ Iris ter Schiphorsts „Liebesgeschwüre“

Das Bild, das nur aus Weiß (der Nichtfarbe) oder Schwarz (allen Farben zusammen) besteht, stellt Fragen grundsätzlicher Art an die Malerei. In der Literatur gibt es passend dazu das leere Blatt oder die zerschlagene Semantik.

Schwerer fällt es den MusikerInnen, ihr Metier mit musikalischen Mitteln in Frage zu stellen. Wie soll das Schweigen komponiert werden? Als korrekt gespielte Partitur auf dem geschlossenen Klavier, wie Adrina Hölszky das tut? Zu verlockend ist es da, sich an scheinbar so einfache Dinge wie Melodie und Rhythmus zu erinnern, wenn auch nur für Sekunden.

Eine, die gegen die Verführung ankämpft, ist die Berliner Komponistin Iris ter Schiphorst. Obwohl auch sie es noch nicht geschafft hat, die Stille zu komponieren, hat sie sich auf ihrer neuen CD „Liebesgeschwüre im Schneckenhaus“ bereits wieder ein Stück näher an Her(t)zregionen jenseits der Mitte heranbewegt. Wird die Musik der Zukunft nur noch aus Erinnerung bestehen?

Langsame, langgezogene Töne überlagern sich und werden in immer noch höhere Tonlagen gedrängt. Wenn dann die Sopranstimme von Gisburg Smialek den Ton aufnimmt, hat sie eine Höhe erreicht, in der sie keine Worte mehr artikulieren kann. Da oben muß man wohl „Liebesgeschwüre“ ansetzen.

Geschwüre singen, gar Liebesgeschwüre: das verlangt Mut zur Wahrheit. Wenn man weiß, daß mit Ultraschall in der Medizin Geschwulste geheilt werden, ist aber auch der von Iris ter Schiphorst gewählte Titel nichts Abwegiges mehr. Die Komponistin, die aus dem „klassischen Untergrund“ kommt und eben jenem musikalisch verbunden bleibt, läßt nichts unversucht, um an den Rand des Hörbaren zu kommen.

Selbst dort gibt es jedoch noch etwas wiederzuerkennen: Quietschende Metallräder auf Schienen, Vogelstimmengewirr von Menschen, fehlgeleitete Violinentöne und ein Fingernagel, der versehentlich auf einem Stück Blech entlangrutscht (was beim Hören in den Zähnen zieht). Iris ter Schiphorst experimentiert an der Grenze.

Noch werden ihre extrem hohen Töne gelegentlich von sehr weich fließenden Kompositionen im Zaum gehalten.

Gerade damit erzeugt sie die Spannung, die vor dem Ausbruch kommt. Sich die fließenden Tonübergänge wegdenken, sich den Respekt vor dem Wiedererkennbaren wegdenken und statt dessen ein hammerhart geschlagenes Schlagzeug, synthetisch oder „echt“, dazuzupacken. Als Rockmusikerfahrene ist Iris ter Schiphorst dem auf ihre Art nicht abgeneigt, wie in der „Ballade für einen Bulldozer“ ausgeführt wird. Denn auch in den tiefen Tönen ist nicht zu Hörendes, Abwesendes drin.

„Mich machen bestimmte Aspekte im Leben wie soziale Ungerechtigkeit verrückt, und ich finde, die Musik muß dem entsprechen. Die Musik muß verstören. Natürlich wäre es dem Narzißmus erträglicher, würde ich etwas machen, worauf die große Masse applaudiert.“ Waltraud Schwab

Intrors, „Liebesgeschwüre im Schneckenhaus“ von Iris ter Schiphorst, zu beziehen über: Fax: 694 37 90.

Ebenfalls dort zu bekommen ist Iris ter Schiphorsts Vertonung von zwei Hörstücken der österreichischen Schriftstellerin Karin Spielhofer.