"Zwickelerlaß" und "FKK-Krieg"

■ Ostseebäder auf rügen und Usedom haben wechselvolle Vergangenheit / Erstes Seebad 1824 eröffnet / Das Gros der Urlauber kommt noch immer aus Berlin

Schulze, wie sie ihn in Binz nennen, hat einiges zu sagen. Zum Beispiel über die Eigentumsverhältnisse im größten Seebad der Insel Rügen: „Wer zu DDR-Zeiten freiwillig gegangen ist“, meint Schulze, der dürfe die Existenz der jetzigen Bewohner nicht zerstören. Schulze gehört zu den jetzigen Bewohnern. Seit 1945 lebt der einstige Lehrer und nunmehrige Fremdenführer auf Rügen und zählt damit zur statistischen Hälfte: Jeder zweite Insulaner kam am Ende des Zweiten Weltkriegs als Flüchtling über den Rügendamm. „Das sieht man noch heute“, erklärt Schulze nicht ohne Stolz: „Die für die Ostseebäder so typische Verglasung der Veranden ist einzig dem Umstand geschuldet, daß damit für die Flüchtlinge neuer Wohnraum geschaffen wurde.“

Heute ist für Flüchtlinge auf Rügen freilich kein Platz mehr. Ein geplantes Flüchtlingsheim nördlich von Binz wurde nach Protesten der Insulaner zu den Akten gelegt. Die Urlauberzeitung Rüganer weiß, warum: „Wenn vor unserer Haustüre ein Asylantencamp entsteht“, so zitierte der Rüganer den Volksmund, „können wir alle touristischen Perspektiven begraben.“

Das Feriengeschäft ist nicht nur auf Rügen mittlerweile die einzige Einnahmequelle. Auch auf Usedom sind die Betten im Sommer laut Fremdenverkehrsamt „zu neunzig bis hundert Prozent ausgelastet“. 10,48 Prozent der Gäste kommen wie in Ahlbeck aus Berlin. Damit liegt die Hauptstadt unangefochten an erster Stelle, gefolgt von Brandenburg, Sachsen und Nordrhein-Westfalen. Eine Rangfolge mit Tradition: Bereits im vergangenen Jahrhundert galt die Nachbarhalbinsel Usedom als „Berliner Badewanne“.

Ein Gast: „Man hat Ruhe und frische Luft, und diese wirken wie Wunder und erfüllen Nerven, Blut und Lungen mit einer stillen Wonne.“ Diese Hymne schrieb der großstadtgeschädigte Theodor Fontane am 24. August 1863 aus Heringsdorf an seine Frau. „Das erste und größte Vergnügen“, war er sich sicher, „bildet das Meer.“

Der Ort des Vergnügens des Reiseführers aus Berlin war zu dieser Zeit freilich erst knapp vierzig Jahre alt. Lange nach Norderney, Travemünde und Warnemünde wurde Heringsdorf im Jahre 1824 zum Seebad ernannt. Wenig komfortabel ging es damals zu und familiär: So mußten die ersten Badegäste das Schilf für die vorgeschriebenen Badehütten noch selbst zusammensuchen, und die Unterbringung erfolgte zumeist in den Katen der ansässigen Fischer.

Die Bautätigkeit mit ihrer typischen Bäderarchitektur, die den Urlaubsorten an der Ostsee ihr heutiges Gesicht gab, setzte erst zur Mitte des Jahrhunderts ein. Aus dieser Zeit stammen auch die repräsentativen Seebrücken, von denen allein die in Ahlbeck erhalten ist. Repräsentativ war auch die Herkunft der Berliner „Herrschaften“. Während die weniger Betuchten ihre „Sommerfrische“ am Wannsee, am Müggelsee oder im Biergarten verbrachten, verzeichnete die Gästeliste des Seebads Zinnowitz im Jahre 1912 unter anderem einen „Regierungsrat, Direktor, Fabrikbesitzer, Universitätsprofessor und eine Frau Baronin“.

Doch die Zeit machte auch vor den altehrwürdigen Seebädern nicht halt. Insbesondere in den zwanziger Jahren wurden die „Berliner Badewannen“ für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich – es drohte der „Sittenverfall“. Und es drohte der preußische Polizeipräsident: In seinem berüchtigten „Zwickelerlaß“ legte er akribisch fest, welche Körperpartien die Badekleidung bedecken mußte, um keinen Anlaß zu öffentlichem Ärgernis zu geben. Doch auch die preußischen Ordnungshüter konnten nicht verhindern, daß sich mehr und mehr Badegäste ihrer Hüllen entledigten. Nackte Tatsachen, vor denen selbst die SED nicht die Augen verschließen konnte: „Badend, spielend, liegend: eine nackte Menschheit siedelt zwischen Wald und Ufer“, schreibt der zu DDR- Zeiten geächtete Schriftsteller Fritz Rudolf Fries im „Weg nach Oobliadooh“.

Mit der Inbesitznahme der Inseln durch finanzkräftige Investoren soll nun wieder Ordnung ins Bade- und Lotterleben kommen. Aus „Rücksicht auf die westdeutschen Gäste“, so heißt es, geht der Trend wieder zum „Textilstrand“. Freilich nicht ohne sogenannte „Verwerfungen“: Manch einen Binzer, so will es die „FKK- Krieg“-Legende, erregte der neue „Zwickelerlaß“ so sehr, daß einer der „Textilstrand“-Fanatiker kurzerhand seiner Textilien entledigt und in die Ostsee geworfen wurde.

Ob Binz tatsächlich wieder den „Herrschaften“ gehören wird, kann auch Schulze nicht voraussehen. Doch die Gegenwart spricht für sich. „An allen Ecken und Enden wird gebaut“, führt Schulze seine Gäste durch die platanenbestandenen Gassen. Dagegen will er freilich nichts sagen: „Hotels und Banken gehören nun einmal dazu.“ Uwe Rada