: „Ehrlich gesagt: Ich mag Malaria“
■ Lieber Grenzen öffnen: Ein Gespräch mit dem polnischen Journalisten und Reiseschriftsteller Ryszard Kapuściński
taz: Herr Kapuściński, Sie waren als Journalist in sehr vielen Ländern der Welt. Gibt es ein Land, das sie von ganzem Herzen hassen?
Ryszard Kapuściński: Nein. Natürlich habe ich furchtbare Dinge erlebt. Aber es gibt kein Land, in das ich nicht gerne zurückginge. Ich mag wohl die Menschen. Ich habe fast überall hilfsbereite, offene Leute getroffen. Das ist natürlich Reporterglück, und über die entsprechenden Länder sagt man dann bei der Abreise, sie seien interessant.
Haben Sie ein Lieblingsland?
Das wäre für mich wohl ganz Afrika. Immer wenn ich zwei, drei Jahre in Europa verbracht habe, langweile ich mich sehr und möchte zurück dorthin.
Was ist für Sie langweilig an Europa?
Erst seit 1989 ist Europa interessant. Vorher war das eine ziemlich festgefahrene Gegend, es war einfach nichts los hier. Ein bißchen Parteiengezänk, aber nichts von großer historischer Bedeutung. Europa war für mich immer eine Durchgangsstation, wo ich mich zwei, drei Tage zwischen meinen Reisen aufhielt. In Afrika dagegen geriet ich in eine einzigartige Situation. Ich war Korrespondent für den gesamten Kontinent und ständig unterwegs. Ich fuhr von einer Revolution zur nächsten, schrieb, schrieb, schrieb, war unterwegs, unterwegs, unterwegs.
Sie sind erst kürzlich wieder aus Afrika zurückgekehrt und machen noch einen etwas angeschlagenen Eindruck.
Als ich am 31. Dezember in Europa landete, hatte ich eine heftige Malariaattacke. Man braucht lange, um sich davon zu erholen. Ich nehme nie Tabletten, was ein wenig riskant ist. Ehrlich gesagt: Ich finde Malariaattacken faszinierend; dieser Moment, wenn die Krankheit dich packt ... Aber wir reden hier natürlich von der gewöhnlichen Malaria, nicht von der gefährlichen Hirnmalaria. Die hatte ich 1962, 1963 in Uganda. Ich konnte nur noch durch Antibiotika gerettet werden, die sie dir von hinten ins Hirn spritzen. Bei der gewöhnlichen Malaria hat man ein komisches Gefühl. Der Körper wird sehr warm, die Knochen fühlen sich sehr kalt an. Das einzige, was dir dann hilft, ist, daß die Leute dich mit allen möglichen Sachen beschweren, am Ende auch mit Türen, und sich dann auf dich legen, um dich wie eine Blume zu pressen. Das fühlt sich ganz wunderbar an! Weil das Zittern sehr stark ist, wie kleine Explosionen, tut das Pressen sehr gut. Es dauert zwei, drei Stunden, danach ist man dann wie tot für lange Zeit. Man kann sich nicht bewegen. Schrecklich.
Aids ist freilich heute in Afrika eine schlimmere Bedrohung als Malaria. Ganze Landstriche werden entvölkert. Jeder hat dort Aids, ich habe ganze Dörfer voller Todgeweihter gesehen, besonders in der Region um den Lake Victoria. In Tansania traf ich einen Missionar, der nur die ganze Zeit damit beschäftigt war, Aidstote zu beerdigen. Aus Mangel an Särgen haben sie dort ein Mehrweggerät mit ausziehbarem Boden konstruiert, durch den die Leichen in die Grube fallen.
In Ihrem Buch „Der Fußballkrieg“ haben Sie vom Prozeß der Entkolonialisierung vieler afrikanischer Staaten berichtet. Wie ist dort heute die Lage?
Es gibt 52 Staaten, Hunderte von Stämmen und Nationalitäten, sehr viele unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Konditionen. Wir müssen natürlich trotzdem verallgemeinern. Das wird das Thema meines neuen Buches sein. Ich bin ja der letzte Zeuge des Prozesses der Entkolonialisierung, der letzte, der die Entwicklung des neuen Afrika von Anfang an verfolgt hat. Alle Kollegen aus der Zeit der Befreiungskämpfe sind entweder getötet worden oder haben den Beruf oder zumindest die Sparte gewechselt.
Man kann, glaube ich, zwei Zivilisationsmodelle unterscheiden: eine Zivilisation der Entwicklung und eine des Überlebens. Jede dieser Zivilisationen ist auf ihre Art kreativ; das Überleben unter harten Bedingungen verlangt viel Energie und Talent.
In Afrika gibt es bis heute keine Hoffnung auf Entwicklung, nur Virtuosität im Überleben.
Warum gelingt in Afrika die Entwicklung nicht?
Die heutigen Schlüsseltechnologien sind für unterentwickelte Ökonomien schlicht zu teuer. Ebenso tragisch: Man hat nicht genügend Know-how. Die fehlende Motivation der Intellektuellen finde ich sehr traurig. Versuchen Sie einmal die wichtigsten afrikanischen Intellektuellen aufzutreiben. Sie leben alle in Paris, London, New York.
Welches Zivilisationsmodell träfe auf die ehemalige Sowjetunion zu, die sie in ihrem jüngsten Buch als das „Imperium“ porträtiert haben? Hans-Magnus Enzensberger, mit dem Sie befreundet sind, hat einmal geschrieben, Sozialismus sei die höchste Form der Unterentwicklung.
Eine schöne Formulierung, aber im Innern der ehemaligen Sowjetunion gibt es sehr verschiedene Niveaus ökonomischer Existenz. Es ist ein Unterschied, ob man in Riga oder in einem Dorf in Turkmenistan lebt.
Warum, glauben Sie, gibt es in Rußland, im Unterschied zu anderen osteuropäischen Ländern, keine irgendwie relevante demokratische Opposition?
Die hat es doch nie gegeben. Dafür gibt es einfach keine Tradition. Was Ihre Frage offenbart, ist auch das Drama unserer Sozialwissenschaft: Es gibt schlichtweg kein Instrumentarium zur Analyse nichteuropäischer Gesellschaften. Wir wenden unsere Erfahrungen und Begriffe auf Kulturen an, die vollkommen anders sind und die von einem vollkommen anderen Wertegefüge regiert werden. Was heißt da zum Beispiel schon „Demokratie“? Oder „freier Markt“? Für Rußland ist dies ein Desaster. Unter der nicht marktgesteuerten Ökonomie gab es zumindest ein bißchen Brot, ein bißchen Zucker für alle. Der „freie Markt“ ist eine sehr künstliche Vorstellung für Gesellschaften, deren Geschichte eher von Strukturen kommunalen Besitzes geprägt ist wie im russischen Fall.
Die Demokraten spielten zu Beginn der Perestroika eine wichtige und prominente Rolle. Sie waren aber zu wenige und zu akademisch orientiert, völlig außerhalb des Zentrums der Macht. Nie waren sie Teil der politischen Klasse, die sehr groß ist. Sie müssen sich vor Augen halten, daß die Nomenklatura Mitte der 80er Jahre 24 Millionen Menschen umfaßte! Das sind zehn Prozent der Gesellschaft, eine enorme Zahl. Und diese Leute hatten im Sozialismus Privilegien, die westlichen Beobachtern lächerlich erscheinen mögen, zum Beispiel bessere, frischere Äpfel zu bekommen als die Masse. In der Ukraine wurde ich Zeuge eines Autounfalls, bei dem sich der Kofferraum eines der beteiligten Wagen öffnete: Er war voller Würste, und es gab eine Schlägerei, die beinahe in ein Massaker ausgeartet wäre. Solange solche Privilegien eine große Rolle im Alltagsleben spielen, ist es immens schwer, die Leute für die Demokratie zu interessieren.
Was man heute über die Stimmung in der ehemaligen Sowjetunion erfährt, pendelt immer zwischen Panik und Melancholie – Träume vom 19. Jahrhundert, von der Monarchie, imperiale Größenphantasien, die Alternative von Solschenizyn und Schirinowski. Noch einmal: Warum gibt es denn in Rußland überhaupt keine relevante kritische Öffentlichkeit?
Ich kann nur sagen, daß es für Reformkräfte in dieser Gesellschaft keine Chance gab, positive Erfahrungen zu sammeln. Es gibt nur die schmerzhafte Erfahrung, daß jeder Wandel, von Lenin bis zu Gorbatschow, zum Schlechteren führte. Das begünstigt natürlich das konservative Denken.
Warum fasziniert eine Figur wie Schirinowski?
Der bringt eigentlich gar nichts Neues. Schirinowski ist die Fortsetzung des althergebrachten russischen Konservatismus, dessen Wurzeln bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Man kann sich in diesem Denken Rußland nur als Großmacht vorstellen, und wo Reformen an der Tagesordnung wären, denkt man nur an Expansion. Das traditionelle Rußland ist ein sehr armes Land mit nicht sonderlich fruchtbarem Boden, einem schlechtem Klima – ein Land der Dunkelheit. Da träumt man eben von freundlicheren Gefilden, helleren Orten. Schirinowski spielt mit diesen Gefühlen, wenn er öffentlich von kommenden Feldzügen phantasiert.
Aber Schirinowski ist in der langen Reihe konservativer Ideologen der erste, der eines Tages auch die Mittel haben könnte, seine Träume Wirklichkeit werden zu lassen.
Ich glaube nicht daran. Doch die Situation ist sehr offen, alle Szenarien sind möglich. Für viele Russen war die Auflösung der Sowjetunion ein großer Schock, den sie nicht akzeptiert haben. Ich war dort zu dieser Zeit. Es gab einige wenige Monate der Desorientierung und des Schocks, doch danach hat man sich gefaßt, und nun will man wieder Großmacht sein.
Sie werden jetzt für einige Zeit in Deutschland leben. Langweilt Sie das Land?
Nein. 1989 ist etwas in Bewegung gekommen, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Europa steht dem noch sehr unwillig gegenüber. Das wird sich ändern müssen.
Wie denn?
Europa war sehr stabil, alles war in Ordnung, Arbeit, soziale Sicherheit, Konsum. Hier war man in der einmaligen Situation, sein Leben planen zu können.
Und nun erleben die Menschen in Europa voller Angst, daß es damit zu Ende geht, daß sie ihr Leben nicht mehr planen können?
Wir Osteuropäer wußten schon lange, daß der Osten nie mehr so sein würde wie zuvor. Aber viele Menschen im Westen haben immer noch nicht erkannt, daß für den Westen das gleiche gilt. Der Druck von außen ist sehr stark. Mit dem Ende des Jahrtausends wird die weiße Weltbevölkerung nur noch zwölf Prozent betragen. Die Weißen werden mehr und mehr zur Minorität. Der Druck der anderen Gesellschaften ist enorm. Hier fühlt man es noch nicht, aber wenn man in diese Länder fährt, ist es offensichtlich: Sie sind jung, stark, ambitioniert.
Welche Länder?
Ganze Kontinente, Asien, Afrika, Lateinamerika. Das sind alles sehr junge Gesellschaften.
In der Terminologie der Wagenburg: Glauben Sie, daß diese jungen Gesellschaften zurückschlagen, daß die europäische Kultur erdrückt wird?
Um Himmels willen! Keiner ist daran interessiert, diese produktive Kultur zu zerschlagen! Das muß man ebensowenig befürchten wie den russischen Einmarsch in Westeuropa. Solche Phantasien verkleistern die Augen für die großen Veränderungen in den westlichen Gesellschaften. Nehmen Sie etwa die amerikanische Gesellschaft: In 30 Jahren werden die meisten Amerikaner Nichtweiße sein. Frühere Generationen von Einwanderern waren noch daran interessiert, die weiße amerikanische Kultur zu übernehmen, ein Teil des Ganzen zu werden. Die heutigen Einwanderer aus Lateinamerika oder Asien kommen nach Amerika und leben dort, aber sie lernen nicht einmal mehr Englisch. Die neuen Medien befördern diesen Separatismus durch ihre Spezialisierung. Ich war in Koreatown in L. A.; da gab es nicht einmal eine englischsprachige Zeitung. Im Hotel war alles, angefangen beim Essen, koreanisch, nur der Mann an der Rezeption sprach Englisch.
Amerika ist immer noch eine offene Gesellschaft. Aber die Konflikte zwischen den Gruppen nehmen zu.
Ist Europa denn noch eine „offene Gesellschaft“, oder trifft hier schon das Bild der „Festung“ zu?
Auch Europa ist im Übergang. Kulturell war Europa immer sehr offen. Die europäische Kultur ist die einzige, die überhaupt aus ihrem Kern heraus an anderen Kulturen interessiert war.
War das nicht auch die Wurzel des Kolonialismus?
Es ging nicht nur um Kolonisierung, sondern immer auch darum, andere Kulturen als Quelle der eigenen Inspiration zu begreifen. Nehmen Sie nur die afrikanische Maske als Inspiration für die Kubisten. Ohne diese Offenheit wird die europäische Kultur zu existieren aufhören. Sie würde völlig provinziell. Die kommenden Kämpfe werden zwischen denen stattfinden, die Grenzen öffnen oder lieber schließen wollen. Aber durch Schließung kann man keine geglückte „Identität“ erlangen. Es gibt vielleicht noch an kleinen, unbekannten Orten der Welt Gruppen von Menschen, Jäger und Sammler, die glauben können, die ganze Welt zu kennen.
Und dann kommt eines Tages ein Reisender wie Sie daher und sagt: Leute, da draußen sind noch andere Stämme, die andere Sachen essen ...
Ja. Aber das haben auch andere nötig. Unsere Literatur – ich kann hier nur für die polnische sprechen, zu der ich zähle – ist sehr ethnozentristisch. Interview: Jörg Lau/Andrea Seibel
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