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Erklärt sich selbst und belehrt

Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“, gern geschmäht, oft zitiert und vielfach paraphrasiert, wird 150 Jahre alt  ■ Von Micha Haarkötter

Sieh einmal, hier steht er / Pfui! der Struwwelpeter“ – und er hat nicht nur immer noch waffenscheinverdächtige Fingernägel und Löwenmähne im Afro-Look, nein, jetzt hat er auch noch einen langen Bart: 150 Jahre alt wird der strubbelige Nonkonformist, samt seiner Spiel- und Spießgesellen.

Die 840. Auflage kann der Originalverlag Rütten & Loening zum Jubiläum präsentieren, nicht mitgezählt all die Übersetzungen, Bearbeitungen und Parodien von „Struwwelhitler“ bis „Punkerpeter“, vom wilhelminischen „Kriegsstruwwelpeter“ bis zum schwulenbewegten „Schwuchtelpeter“, die Dr. Heinrich Hoffmanns Bildergeschichten zum „Hauptgewinn in der großen Lotterie des internationalen Büchermarktes“ gemacht haben, wie der Struwwel-Forscher G.A. Bogeng schon 1939 befand. Stattlich auch die Zahl der Interpretationen pädagogischer, psychologischer, ja juristischer Art, oft freilich eher kritischer, wenn nicht offen ablehnender Natur: Da werden Hoffmanns Geschichten mit den „Foltermaschinen“ und pädagogischen „Quälereien im 19. Jahrhundert“ gleichgesetzt (B. Eizykman) oder als zivil- und strafrechtlich relevante Tatbestände der Bundesprüfstelle zur Klassifizierung als „gewaltverherrlichende Schrift“ empfohlen (J.-M. Günther). Den „Struwwelpeter“ in den Kanon „schwarzer Pädagogik“ einzureihen, greift allerdings zu kurz. Das zeigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte.

Struwwellegenden

Zweimal äußert sich sein Schöpfer „offiziell“ über die Entstehung: im illustrierten Familienblatt Die Gartenlaube (1/1893) und in seinen „Lebenserinnerungen“. Hoffmann erzählt, wie er sich Weihnachten 1841 auf die Suche nach einem Bilderbuch für seinen dreieinhalb Jahre alten Sohn Carl machte, „aber alles, was ich da zu sehen bekam, sagte mir wenig zu. [...] Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es sieht, begreift es. Mit moralischen Vorschriften zumal weiß es gar nichts anzufangen. Die Mahnung: Sei reinlich! Sei vorsichtig mit dem Feuerzeug und laß es liegen! Sei folgsam! – das alles sind leere Worte für das Kind. Aber das Abbild des Schmutzfinken, des brennenden Kleides, des verunglückenden Unvorsichtigen, das Anschauen allein erklärt sich selbst und belehrt.“ Und so will Hoffmann ein leeres Schreibheft gekauft haben, um dem Sohnemann selbst ein Bilderbuch mit ursprünglich sechs Geschichten zu fabrizieren.

Die „Lustigen Geschichten und drolligen Bilder“, so der Originaltitel, entstehen aus der Kritik am Kinderbuch der Zeit: einerseits am Übergewicht des Textes in der moralinsauren Erziehungsliteratur, andererseits am drastischen Naturalismus der illustrierten „Indianer- und Räubergeschichten“. Dem wiederum begegnet Hoffmann mit seinen naiven Karikaturen, die dem Stil von Kinderzeichnungen angeglichen sind, da auch das Kind selbst „kleine menschliche Figuren aus zwei Kreisen und vier geraden Linien in der bekannten Weise zeichnet und glücklicher dabei ist, als wenn man ihm den Laokoon zeigt“.

Aus dieser Kritik entwickelte Hoffmann sein eigenes Kombi- Pack aus Bilderabfolgen, die auch leseunkundige Dreijährige verstehen, und einem Text, der Drastik („Er schlug die Stühl' und Vögel tot...“) mit Poesie („Und der Hut fliegt weit voran / Stößt zuletzt am Himmel an“) zu verbinden weiß.

Damit revolutionierte der Frankfurter Arzt das Kinderbuch. Doch von Revolutionen wollte er in späteren Jahren nichts mehr wissen. In seinen Erinnerungen verschweigt er, daß er nicht ganz voraussetzungslos zu seinen drolligen Einfällen kam. Die Entstehung des Kinderbuchs steht nämlich auch in engerem Zusammenhang mit der liberal-demokratischen Bewegung der 1840er Jahre, die in die Bürgerliche Revolution von 1848 mündete. Statt Hauptwach-Sturm und Paulskirche ist in den „Erinnerungen“ ein ganzes Kapitel dem Zusammentreffen mit Kaiser Wilhelm I. gewidmet: „Am Donnerstag, den 18. Oktober [1877], wehen von unserem Balkon zwei deutsche Fahnen [...].“

Politgestruwwel

Man redete sich mit Gemüsenamen an: Die fruchtbringende Gesellschaft, die seit 1840 wöchentlich im Hinterzimmer eines Frankfurter Gasthofs zwecks „geistig anregender Geselligkeit“ zusammenkam, nannte sich „Tutti Frutti“ und verschrieb sich demokratisch- liberal der vegetabilen Gleichmacherei. Gründungsmitglied Dr. Heinrich Hoffmann trug das Pseudonym „Zwiebel“, obwohl er weniger für die Tränendrüse als vielmehr für die Lachmuskeln zuständig war. „Zwiebel“ trug mit humoristischen Studien und kleinen Gedichten zur Förderung des Vereinszwecks bei. Die Komödie „Die Mondzügler“, in der er sich „in aristophanischer Schärfe“ über die Hegelsche Naturphilosophie lustig machen wollte, ließ er drucken, blieb aber auf der Auflage sitzen und mußte Schulden machen. So wechselte der Dilettant in vielen Gassen kurzerhand das Genre und stellte der umstürzlerischen Gesellschaft bunte Kindergeschichten vor. Wie das Sitzungsprotokoll vermerkt, verfehlten die drolligen Bilder ihren Effekt nicht: „Ihre [Zwiebels] selbstgedichteten und selbstgemalten Kinderfabeln beweisen, daß, wie manchmal aus einem großen Pinsel ein Arzt wird, hier auch einmal ein Arzt ein großer Pinsel geworden ist.“

Die aufgeweckten Intellektuellen regten Hoffmann zu weiteren Geschichten an. Ihnen muß vor allem die Art gefallen haben, wie aktuelle und politisch brisante Kost scheinbar naiv verpackt wurde:

– Die „Geschichte vom bösen Friederich“ („Und schlug den Hund, der heulte sehr. / Und trat und schlug ihn immer mehr“) kann gesehen werden im Zusammenhang mit der Gründung des Frankfurter Tierschutzvereins 1841, der antrat, die „menschliche Gesellschaft von der Bande der Roheit zu befreien“.

– Die „Geschichte von dem schwarzen Buben“ („Die schrie'n und lachten alle drei. / Als dort das Mohrchen ging vorbei“) nimmt Bezug auf die Diskussion um Abschaffung der Sklaverei in Übersee, die auch in liberalen Kreisen Frankfurts geführt wurde.

– Auch der Schneider, der im „Daumenlutscher“ vorkommt, gehörte einer brisanten Zunft an. 1841 wurde in Frankfurt der Schneider Wilhelm Enke wegen „politischer Umtriebe“ verurteilt: Er war im „Bund der Geächteten“, welcher sich am frühkommunistischen Schneider (!) Wilhelm Weitling orientierte.

– Der magersüchtige Suppenkaspar nach den Hungeraufständen schlesischer Weber 1844; die Erfindung des Schwefelhölzchens 1829 als „Emanzipationsmittel“ für Frauen, die nun nicht mehr das Herdfeuer hüten müssen.

In jeder Geschichte des „Struwwelpeter“ steckt der politische Funke und steckt die persönliche Rebellion, die auf den Kopf – oder auf die Füße – gestellte Welt... Sicherheitshalber mußte der Nervenarzt die ersten Auflagen unter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“ veröffentlichen. Zu offensichtlich waren Hoffmanns Gestalten für die ZeitgenossInnen Allegorien auf Zeitereignisse.

Das muß auch Dr. Zacharias Löwenthal alias Carl Friedrich Loening alias „Spargel“ im Gespür gehabt haben, der Hoffmann umgehend den Verlag der „lustigen Geschichten“ anbot.

Loening hatte bereits 1835 in Mannheim einen Verlag gegründet, in dem er die liberal-revolutionären Schriftsteller des „Jungen Deutschland“ verlegte, bis ihm das per Bundestagsbeschluß verboten und die Konzession entzogen wurde. In seinem nächsten Verlagshaus, der „Literarischen Anstalt“, erschien unter anderem von Marx und Engels „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“, doch bekam er schnell wieder Ärger mit der Zensur. Seine dritte Anstalt, die unter dem Namen seines Kompagnons J. Rütten firmieren mußte, hob Loening just mit dem „Struwwelpeter“ aus der Taufe. „Nur“ ein Kinderbuch hätte kaum in Loenings Verlagskonzept gepaßt. Aber der Verleger hatte den richtigen Riecher, daß es sich hier um weit mehr als „drollige Bilder“ handelte. So war schon nach einem Monat die erste Auflage vergriffen.

Dem politischen Charakter des Buches entsprach auch der Wunsch des Autors, eine preiswerte und damit volksnahe Ausgabe vorzulegen. Das neu erfundene kostengünstige Steindruckverfahren ermöglichte einen Kaufpreis von unter einem Gulden, was massenhafte Verbreitung und Wirkung gewährleistete.

Struwwelpetriaden

Hoffmanns Stil der fortlaufenden Bildergeschichte machte aber auch Anleihen bei einem anderen neuen Medium, der Laterna magica, die damals stark an Popularität gewann und damit auch dem „Struwwelpeter“ öffentliches Interesse versprach.

Die politische Aussagekraft des Struwwelpeter wird letztlich auch durch die unüberschaubare Zahl von Bearbeitungen und Parodien verdeutlicht. Wenn auch Fassungen wie dem kürzlich neu aufgelegten britischen „Struwwelhitler“ von Robert und Philip Spence oder dem „Anti-Struwwelpeter“ von F.K. Waechter eine ihrerseits sehr einseitig negative Interpretation des Originals zugrunde liegt, vermitteln sie doch einen Eindruck von der „Power“ der Vorlage.

Und auch an der Tradition dieser „Struwwelpetriaden“ ist Heinrich Hoffmann nicht unschuldig. Denn der Struwwel-Vater war es, der im Revolutionsjahr 1848 das Agitationsbändchen „Handbüchlein für Wühler oder Kurzgefaßte Anleitung, in wenigen Tagen ein Volksmann zu werden“ herausbrachte und mit „Peter, Struwwel, Demagog“ unterzeichnete.

Der liberale Hoffmann, der für die konstitutionelle Monarchie eintritt, konterkariert mit dem „Peter Struwwel“ die linke Paulskirchen-Fraktion, die für Republik und Abschaffung des Privateigentums einsteht. Damit segnet der Urheber, der zeitlebens gerichtsnotorischen Ärger mit Plagiatoren hatte, von vorneherein alle Aktualisierungen des Struwwelpeter-Stoffes ab. Das gilt bis hin zur neuesten Version, den neuen Bildern zu alten Texten von Manfred Bofinger, der Skinheads, Blauhelmeinsätze und Fernsehsucht struwwelpeteresk unter die Lupe nimmt.

Für den Schweizer Psychologen Donald Brinkmann besteht die Faszination des „Struwwelpeter“ darin, daß er einen Archetyp widerspiegelt, ein „Urbild der menschlichen Seele“. Vielleicht kommt der „Kick“ aber auch gerade vom Unbekannten. Unentschlossen in den Bilderbögen – oder, um an dieser Stelle mit Walter Benjamin nicht zu enden, aber zu schließen: „Wahrhaft revolutionär wirkt das geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlichen Geste spricht.“

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