Krank machende Ohnmacht

Gespräch mit der Frankfurter Psychoanalytikerin Dr. Emanuela M. Leyer über migrationsbedingte Erkrankungen bei Ausländern  ■ Von Franco Foraci

taz: Wann kann Migration krank machen?

Emanuela Leyer: Zunächst ist es wichtig, die vielfältigen Formen der Migration zu unterscheiden. Die Flucht vor Verfolgung und Krieg ist etwas anderes als die klassische Arbeitsmigration. In der Arbeitsmigration, die mehr oder weniger freier Entschluß ist, liegen neben Risiken auch sehr große Chancen für den einzelnen. Die überwiegende Mehrheit der Ausländer wird mit dem radikalen Wandel in ihrem Leben durch die Emigration relativ gut fertig. Wenn aber der Migrant überfordert ist und keine andere Lösungsmöglichkeit für bestehende Konflikte findet, dann können körperliche Beschwerden und psychosomatische Erkrankungen auftreten.

Macht diese Flucht in äußere Krankheitssymptome Sinn?

Sicher. Die physische Krankheit soll als eine Art Schutzmechanismus funktionieren und ist für diese Menschen sozusagen der letzte Versuch, ihre Konflikte mit dem stark fremdbestimmten Leben im Ausland doch noch zu lösen. Denn wenn man krank ist, fordert man Hilfe. So ist man mit seinen Ängsten nicht mehr allein.

Wie kann das im konkreten Einzelfall aussehen?

Eine 28jährige Frau wird jährlich für mehrere Wochen stationär in verschiedenen Kliniken zur Abklärung ihrer starken Migräneanfälle aufgenommen. Es findet sich nie ein organischer Befund. Wie sich in unserem ersten Beratungsgespräch herausstellt, führt sie neben ihrer Fabrikarbeit am Fließband abends – manchmal bis in die Nacht hinein – zusätzlich Bügel- und Näharbeiten aus, um möglichst bald ihr finanzielles Migrationsziel zu erreichen. Die schulpflichtigen Kinder leben bei den Großeltern in der Heimat. Die jährlichen Krankenhausaufenthalte haben ihr bisher den Sommerurlaub ersetzt, den sie und ihr Mann sich nicht gönnen.

Kann man demnach verallgemeinernd sagen, daß sich körperliche Beschwerden bei Ausländern oft aus einem starken Heimwehgefühl oder Ohnmachtsgefühl einstellen?

Ja, zweifelsohne. Ohnmachtsgefühle trifft es allerdings ein wenig besser als Heimatsehnsucht. Denn was ist eigentlich Heimat? Heimat ist doch für viele Leute da, wo sie sich wohl fühlen, wo es ihnen gutgeht, wo sie sich „aufgehoben“ und Herr ihrer selbst fühlen.

Schwierigkeiten mit den Veränderungen in der Fremde haben vor allem diejenigen, die damals bei der Einwanderung hofften, im Ausland liege das Paradies. Sie kommen später irgendwann – meist im Rentenalter oder wenn sie nach vielen Jahren krank oder arbeitslos werden – nicht damit zurecht, daß sie anders als in ihrer alten Umgebung als Arbeitskräfte, nicht aber als Menschen gefragt waren. Für mich ist es daher gar nicht so verwunderlich, daß gerade bei den älteren Migranten nach etlichen Jahrzehnten härtester Arbeit in diesem Land, wenn sie dann enttäuscht werden, depressive und psychosomatische Erkrankungen auftreten können. Wie gesagt können, keineswegs müssen!

Ist dies ein spezielles Problem der Migration?

Unsere moderne Gesellschaft ist einem raschen Wandel der Wertorientierungen unterworfen, die Sicherheit überschaubarer Lebensabläufe und Wege direkter Einflußnahme auf einengende Lebensverhältnisse haben abgenommen. Die Folge: Psychische Störungen nehmen allgemein zu. MigrantInnen erleben dieses uns alle betreffende Problem in zugespitzter Form. Die Bewältigungsprozesse müssen bei ihnen um ein Vielfaches beschleunigter ablaufen. So sind psychosomatische und depressive Krankheiten in der Regel Ausdruck mißlungener Anpassungs- und Integrationsversuche und unterdrückter Bedürfnisse.

Sind diese „Migrations“krankheiten vor allem ein Problem der ersten EinwanderInnengeneration?

Relativ gesehen schon. Je mehr Anpassungsleistungen erbracht werden können, um so weniger wahrscheinlich sind Störungen des seelischen Gleichgewichts. In unserer Gießener Untersuchung bei türkischen Arbeitsmigranten traten aber selbst bei der sogenannten zweiten Generation psychosomatische Leiden häufig auf, jedoch hier zunehmend auch psychische Leiden wie Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten. Überlastete Eltern, Familientrennungen, Schulschwierigkeiten usw. sind Bedingungen der Arbeitsmigration, die die Ausbildung einer stabilen Identität und ausreichend guter sozialer Fähigkeiten bei ausländischen Jugendlichen erschweren.

Der Vorteil der zweiten und dritten Generation ist, daß sie viel besser darüber sprechen können, was sie bedrückt. Die Jüngeren sind viel mehr mit unserer (deutschen) Innerlichkeit und dem Nachdenken über sich befaßt. Sie sind aufgeschlossener und motivierter für die Psychotherapie.

Welche sind die am häufigsten vorkommenden Migrationskrankheiten in Ihrer psychotherapeutischen Praxis?

Wie gesagt, sind dies psychosomatische Erkrankungen wie zum Beispiel Magen-Darm-Krankheiten, Asthma, Schmerzen, Potenzstörungen bei Männern, dann Depressionen, die meist sehr körperlich erlebt und dem Arzt als solche vorgestellt werden. Hinzu kommen Konflikte in Paar- und Familienbeziehungen.

Migrationskrankheiten sind oft das Ergebnis eines dreifachen Verlustes: ein Verlust an ausreichend befriedigenden sozialen Beziehungen, ein Verlust an eigenen Handlungskompetenzen und Entscheidungsmöglichkeiten, ein Verlust an wichtigen Sinnorientierungen. Männer, die sozusagen den sozialen und kulturellen Boden unter den Füßen verlieren, weil sie hier so gut wie keine wirkliche Entfaltungs- und Repräsentanzräume haben, fürchten zu vereinsamen und den letzten Rest Macht in der Familie einzubüßen. In ihrer Hilflosigkeit schlagen sie vielleicht zu oder werden eben depressiv. Interview: Franco Foraci