Lust auf Reform

■ Interview mit dem hessischen Umweltminister Joschka Fischer (Bündnisgrüne): „Ohne eine kräftige ökologische Erneuerung wird es mit uns keine Bundesregierung geben“

taz: Herr Fischer, die Bündnisgrünen haben bei den Wahlen in Niedersachsen Stimmen gewonnen, regieren können sie trotzdem nicht länger. Was bedeutet das Ergebnis für Ihre Option einer rot-grünen Koalition auf Bundesebene?

Joschka Fischer: Für Bonn bedeutet der Wahlausgang in Niedersachsen ein sehr gutes Ergebnis, weil es der SPD die Ängste vor Rot-Grün nimmt und zugleich zeigt, daß die Grünen sich weiter konsolidieren. Für die Bündnisgrünen in Niedersachsen ist es bitter, gewonnen zu haben und trotzdem nicht mehr mitregieren zu können. Allerdings ist offen, wie lange die eine Stimme Mehrheit der SPD wirklich trägt. Die Grünen in Hannover sind Regierungspartei im Wartestand. Das Ergebnis schafft bundesweit eine unglaubliche Motivation und das scheint mir das Entscheidende zu sein.

War es der der Mannheimer Parteitag, der diesen enormen Schub für die Bündnisgrünen ermöglicht hat?

Wenn ich jetzt ironisch antworten wollte, würde ich sagen: Ja.

Im Ernst gefragt, haben die Mannheimer Beschlüsse und die harschen öffentlichen Reaktionen auf den Parteitag für den niedersächsischen Wahlausgang eine negative Rolle gespielt?

Die Beschlüsse von Mannheim insgesamt zeigen, daß die Partei einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht hat. Die Rhetorik hätte ich mir weniger aufgeregt gewünscht. Dann hätte das Signal von Mannheim besser ausgesehen. Aber das ist Schnee von gestern.

Es ist ja verständlich, wenn Sie jetzt das niedersächsische Wahlergebnis als schönen Erfolg für die Partei wie für das rot-grüne Projekt interpretieren. Hochgerechnet würde der Zugewinn jedoch für die Bundestagswahl bedeuten: Die Grünen springen von 4,8 Prozent auf 6,6 Prozent. Das ist aber doch wohl nicht das Gewicht, das die Bündnisgrünen im Herbst 94 einbringen wollen, um Rudolf Scharping davon zu überzeugen, daß er an Rot-Grün nicht vorbeikommt?

Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, wer Umfrage-Weltmeister ist, ist auch Wahl-Weltmeister. Das haben uns die französischen Grünen ja gelehrt: Bei zwanzig Prozent gehandelt, bei sieben Prozent gelandet. Alles, was über fünf Prozent ist, ist gut, alles, was über sieben Prozent ist, ist sehr gut, alles, was über zehn Prozent ist, wäre sensationell. Das ist meine Hierarchie.

Welches Ergebnis brauchen die Grünen Ihrer Meinung nach, damit zumindest die Chance auf eine Koalition mit der SPD im Bund besteht?

Die Grünen müssen erst einmal reinkommen. Ich werde nicht müde, das zu betonen, damit nicht Arroganz und Fahrlässigkeit Platz greifen. Wenn es dem grünen Esel und der grünen Eselin zu wohl wird, tanzen sie gerne auf dünnem Eis, und der Jammer ist dann sehr groß, wenn man einbricht.

Ist Rot-Grün mit Rudolf Scharping überhaupt zu machen? In Rheinland-Pfalz hatte er die Wahl und entschied sich für die Liberalen.

Ob es geht, wird vom Anteil der Grünen abhängen, von den Inhalten und von den Personen. Für mich steht fest: keine Koalition um jeden Preis. Wenn wir grüne Politik in einer Koalition nicht wiedererkennen können, plädiere ich für die Opposition.

Im Mai letzten Jahres haben Sie uns hier an gleicher Stelle mitgeteilt, die Grünen seien wohl doch noch nicht reif zur Übernahme der Regierungsverantwortung auf Bundesebene 1994, sie sei noch zu sehr Protestpartei.

Für mich gilt nach wie vor: Ich würde jede Koalitionsvereinbarung, von der ich überzeugt wäre, daß sie nicht durchhaltbar ist, ablehnen. Die Bundesrepublik taugt nicht für Spielereien. Wenn wir regieren wollen, heißt das, wir müssen eine erfolgreiche Koalition anstreben. Wenn man sich das nicht zutraut, muß man es lassen. Schlimmer als die Enttäuschung wäre, wenn nach eineinhalb Jahren der einzige Reformansatz auf der demokratischen Linken auf lange Zeit hin am Ende wäre.

Scharping betreibt einen Wahlkampf mit klassischer SPD-Prioritätensetzung. Nahtstellen zur grünen Politik sind kaum auszumachen. Ist das mehr als Wahlkampftaktik, nämlich schon eine Vorentscheidung gegen Rot-Grün?

Wenn Rot-Grün die Mehrheit will, muß die Volkspartei den Kampf um die Mitte austragen und gewinnen. Im letzten Bundestagswahlkampf gab es eine klare rot-grüne Konkurrenz zwischen SPD und Grünen. Das hat sich für beide Seiten als nicht sehr erfolgreich erwiesen. Dennoch, ich plädiere nicht dafür, daß die SPD ihre rot-grünen Anteile einpackt und wir am Ende mit einem modernisierten Hermann Rappe namens Gerhard Schröder verhandeln. Denn eines ist klar: Ohne eine kräftige ökologische Erneuerung wird es mit uns keine Bundesregierung geben.

Also Wahlkampf als Arbeitsteilung ohne wirklich sichtbare inhaltliche Gemeinsamkeiten und nach der Wahl die Koalition. Das hört sich schon ziemlich konstruiert an.

Wer Rot-Grün will, muß Grün wählen, wer einen Reform-Kohl will, wählt SPD. Und zusammen machen wir dann eine wirkliche ökosoziale Reformkoalition.

Ob die Gesellschaft so phantasievoll ist, sich das vorstellen zu können und so experimentierfreudig...

...wenn diese Krise nicht zum Experimentieren einlädt, wird sie nicht bewältigt werden. Jetzt ist die Stunde der Experimente! Deshalb bin ich nicht mehr so pessimistisch wie vielleicht noch vor einem Jahr. Die Gesellschaft fängt an, sich in Richtung Aufbruch zu bewegen, das zeigen die grundlegenden Weichenstellungen etwa bei der Arbeitszeitverkürzung. Die These, es gibt kein Reformklima, oder „Experimente unerwünscht“ stimmt nicht mehr.

Gehen wir davon aus, das Klima sei wirklich besser als sein Ruf, es reicht numerisch und die SPD will es mit den Grünen machen...

...umgekehrt, die Grünen sind bereit, es mit der SPD zu machen.

Gut, wie sieht der neue Gesellschaftsvertrag aus, von dem Sie sprechen?

Wir werden aufhören müssen, die Lasten der Einheit vor allen bei den arbeitnehmenden Schichten abzuladen. Wir brauchen eine neue Lastenverteilung. Die Frage wird sich stellen, inwieweit die Besserverdienenden bereit sind, einen höheren Anteil am Umbau unseres Sozialstaates zu übernehmen, ob sie bereit sind, Schritt für Schritt größere Lasten für den ökologischen Umbau zu tragen, für die Bildungsinvestitionen, für die deutsche Einheit oder für die Grundsicherung.

Das ist noch immer eher die Problembeschreibung als die Lösung. Bislang sieht es nicht danach aus, als ließe sich der materielle Verzicht im Interesse der Einheit oder der Umwelt wirklich organisieren.

Das ist eine Frage der politischen Überzeugung, aber auch der Mobilisierung des Interesses. Die Arbeitnehmer werden derzeit knallhart vor die Frage ihrer Solidarität zwischen Arbeitsbesitzern und Nichtbesitzern gestellt. Deshalb müssen sich auch die besitzenden Schichten fragen lassen, ob sie verstärkt in die Zukunft Deutschlands investieren. Ich bin da für undogmatische Überlegungen. Warum sollten wir nicht darüber nachdenken, Kommunalaktien einzuführen? Warum soll das Frankfurter Bürgertum nicht in der Lage sein, die kommunalen Unternehmen zu erwerben? Aber wir werden auch fragen müssen, ob ein Landtagsabgeordneter oder ein Chefredakteur alles frei haben muß. Da ist die Frage der Solidarität ganz konkret zu stellen.

Wird das nicht gerade die klassische Mittelstandsklientel der Grünen ziemlich abschrecken?

Da bin ich gerne Utopist. Wenn solche Überlegungen den Mittelstand abschrecken, dann geht es weiter abwärts bis zu dem Punkt, an dem auch der Mittelstand begreift, daß es so nicht weitergeht. Ich rede hier nicht der Expropriation der Mittelschicht das Wort. Es geht hier um Einsicht in die eigene Interessenlage, die nicht allein engstirnig materiell definiert werden kann.

Ohne Steuererhöhungen wird eine künftige Bundesregierung kaum auskommen. Sagen die Grünen vorher, wieviel die BürgerInnen an welcher Stelle zuzahlen müssen?

Es geht nicht um Steuererhöhungspolitik, sondern um den Umbau des Steuersystems. Wenn wir Öko-Steuern einführen, werden wir bei den einkommensbezogenen Steuern nachgeben müssen. Wenn ich den Leuten bei der Mineralölsteuer zusätzlich etwas abverlange, dann muß es spürbare Verbesserungen im öffentlichen Nahverkehr geben. Also, die kreative Phase wird erst in den Koalitionsverhandlungen für beide Parteien richtig beginnen, nicht auf den Programmparteitagen. Dann wird es richtig spannend. Wenn es dann um den Aufbruch geht, wenn dann auch die gesellschaftlichen Kräfte mit ihren Ideen und Forderungen in solche Verhandlungen drängen werden, wenn es um wirkliche Neugestaltung von Politiken geht, ich glaube, dann wird auch die SPD Spaß dran finden, auch Herr Scharping. Lust auf Reform, Frust am Stillstand. Endlich Experimente. Das ist die Devise.

Was sind die zentralen Schwerpunkte eines rot-grünen Regierungsprogramms?

Wir brauchen eine Strukturrevolution in der Energie-, der Verkehrs- und der Abfallpolitik. Das zweite Feld wird der Umbau des Sozialstaates, der Versuch, die soziale Desintegration zu stoppen. Das dritte Projekt heißt deutsche Einheit. Viertens: Europäisierung unserer Gesellschaft, Einwanderungsrecht, doppelte Staatsangehörigkeit. Und schließlich wird es um eine Neudefinition der Außenpolitik bei gleichzeitigem Festhalten an der Tradition der Bundesrepublik als einem Friedensstaat gehen. Also, wohin geht dieses Deutschland? Bleiben wir europaorientiert oder gehen wir wieder alten Machtstaatsillusionen nach? Wird Deutschland zu einem Stabilitätsfaktor oder zum Risikofaktor? Das sind die elementaren Fragen an die künftige Außenpolitik.

Werden Sie diese Fragen auf der Basis der außenpolitischen Beschlüsse von Mannheim beantworten? Wieviel gesellschaftliche Unterstützung erwarten die Grünen für ihre Forderung nach schrittweisem Ausstieg aus der Bundeswehr und Auflösung der Nato?

Niemand von uns will die Nato sofort auflösen. Die Frage stellt sich: Wie soll eine gesamteuropäische Friedensordnung aussehen? Und diese Ordnung wird die Nato überschreiten. Das grüne Programm beinhaltet im übrigen ein klares Ja zur europäischen Integration, also eine klare Einbettung all dessen, was in Mannheim an grüner Vision beschlossen wurde, in einen gesamteuropäischen Prozeß, also die Koppelung der Abrüstung der Bundeswehr an europäische Friedensverhältnisse, die das auch zulassen. Hier wird doch keinem neuen Abenteurertum das Wort geredet.

Was Sie hier so schön erläutern, soll heißen: Unsere Beschlüsse sind das eine, konkrete Politik das andere?

Das würde auf Opportunismus hinauslaufen. Das mag bei dem ein oder anderen vielleicht der Fall gewesen sein, da klingen die dröhnenden Parteitagsreden eben anders als die internen Einlassungen. Aber für die Mehrzahl der Delegierten und die Partei gilt das nicht, das ist keine opportunistische Frage, sondern das ist eine Rückversicherung der eigenen Identität, gerade weil man auf vielen anderen Feldern einen ausgreifenden Schritt in Richtung Realpolitik getan hat.

Was wird in einer rot-grünen Koalitionsvereinbarung von den außenpolitischen Beschlüssen der Partei am Ende noch übrigbleiben?

Wir werden über den Bundeswehrauftrag und die Senkung der Truppenstärke hart zu verhandeln haben. Ebenso über die Beendigung von Rüstungsexporten und über nachhaltige Konversionsschritte. Wir werden die Menschenrechtsfrage zu einem zentralen Gesichtspunkt der Außenpolitik machen und wir werden über eine auf Solidarität zielende Neudefinition der Rolle Deutschlands in der Nord-Süd-Frage verhandeln müssen.

Was müssen die Bündnisgrünen im Wahljahr Ihrer Meinung nach noch tun, damit es zu Rot-Grün reicht?

Wir müssen kämpfen und alles lassen, was Streit bedeutet. Wenn es gelänge, zwanzig Eckpunkte eines Regierungsprogrammes aus grüner Sicht zu formulieren auf der Grundlage unseres Wahl- und Grundsatzprogrammes, streitfrei und flügelübergreifend, würde ich nachdrücklich dafür plädieren, das auf einem eintägigen Sonderparteitag vorzustellen, zu diskutieren und zu beschließen. Das gäbe noch einmal einen Motivationsschub.

Wollen Sie die aktuelle Beschlußlage der Partei etwas nachbessern?

Nein, konkretisieren, denn in unseren Mannheimer Beschlüssen gehen Grundsatz- und Wahlprogramm durcheinander. Was trauen wir uns in vier Jahren tatsächlich zu?

Ist Rot-Grün nicht doch nur die spielerisch gemeinte Option, die debattiert wird, weil die konservativ-liberale Regierungskoalition sich verbraucht hat, ohne daß schon eine Mehrheit der Gesellschaft auf einen grundlegenden Politikwechsel setzt?

Nein. Rot-Grün ist die einzige und ernst gemeinte Reformoption. Wenn die konservativ-liberale Regierung die Wahlen übersteht, wird es keine politische Erneuerung geben, allerhöchstens eine Erneuerung rückwärts, auf einen mehr deutschnational orientierten Konservatismus hin. Die Große Koalition bedeutet den großen Stillstand und sozialliberal würde ein kaum erkennbares Minimum an Veränderung bringen, mit einer FDP, die nur noch um ihrer selbst willen in der Regierung ist. Wir kämpfen darum, dieses Land zu regieren, weil wir es gestalten wollen. Das ist der alte Traum von 68. Den haben wir damals revolutionär geträumt, heute träumen wir ihn reformerisch.

Der historische Auftrag meiner Partei liegt im ökologischen Umbau, wo die entscheidenden Weichenstellungen noch nicht gemacht wurden. Und das ist ja auch eine große Herausforderung in einem der bedeutendsten Industriestaaten der Welt. Das wird unsere ganze Kraft erfordern.

Interview: Klaus-Peter Klingel-

schmitt und Matthias Geis