■ Bücher.klein
: Mitmenschliches

Seinetwegen liest man die ansonsten eher biedere Berliner Zeitung. Man spricht über ihn, manche lieben ihn sogar. Alexander Osang, Reporter, 31 Jahre alt und seit der Wende Shooting-Star des Alltagsjournalismus, hat in kurzer Folge sein nunmehr drittes Buch veröffentlicht. Nach dem ersten Reportagenband „Das Jahr Null“ von 1992 und „Aufsteiger – Absteiger“ (1993), einer Sammlung aus Prominentenporträts, die von Bärbel Bohley bis Boris Becker reichen, kommt die jüngste Textsammlung des Mannes mit dem mentalen Röntgenblick auf das neue Deutschland ganz ohne berühmte Mitbürger aus.

Eine verräucherte Eckkneipe in Berlin-Schöneweide gab dem Band seinen Titel. „Die stumpfe Ecke“ befaßt sich mit dem Leben der sogenannten einfachen Leute und deren Erfahrungen im nicht mehr ganz frisch geeinten Vaterland, ihren kümmerlichen Freuden und großen Ängsten vor dem, was der immer noch neue Alltag bringen mag. Osang wirft nichts auf den Müllhaufen der Geschichte; keine auch nur im geringsten krumme Biographie ist ihm zu uninteressant, keine Begebenheit zu belanglos, um nicht doch signifikanten Charakter aufzuweisen. Sein Vorgehen ist ebenso simpel wie einleuchtend: Im Wassertropfen spiegelt sich gewissermaßen die Welt, im Einzelnen und Individuellen das große Ganze der Entwicklung. Tragikomische Geschichten wie die über eine kinderreiche Familie mit ganz persönlicher Farm der Tiere in Berlin-Biesdorf, Stories über erfolglose Privatdetektive, vergessene Starfußballer, Treuhandköchinnen, Karnevalsprinzen, Sparkassenangestellte und ehemalige Helden der Arbeit finden allwöchentlich ein großes und vornehmlich immer noch östliches Publikum, das sich in seiner eigenen Lebensmisere als vermeintliche Verlierer des historischen Prozesses verstanden und dennoch ermutigt fühlt.

Der Ex-DDRler Osang vergräbt sich dabei nicht in Weinerlichkeiten über die Vergangenheit; gleichzeitig bleibt er jedoch seiner Herkunft verpflichtet. Das verleiht seinen Arbeiten für viele Leser Glaubwürdigkeit. Osangs Name ist mittlerweile so etwas wie ein Markenzeichen journalistischer Qualität geworden, die ebenso aus präziser Beobachtungsgabe wie Herzenswärme und Menschenkenntnis schöpft. Intelligenter Sarkasmus sorgt für jene nötige Distanz, die Erkenntnis erst gestattet, und realisiert die „Unterhaltungsfunktion von Journalismus“ nebenbei auch noch praktisch. 1993 wurde Osang, von dem zu wünschen bleibt, daß er sein derzeit vielhofiertes Talent im Medienkarussell nicht zu schnell verschleißt, der renommierte Egon-Erwin-Kisch-Preis verliehen. Anke Westphal

Alexander Osang: „Die stumpfe Ecke. Alltag in Deutschland – 25 Porträts“, Ch. Links Verlag, 192 S., mit Fotos, broschiert, 24,80 DM