■ Deutsch-französische Querelen
: Casus Kinkel?

So ein Politikertypus schien in Bonn seit Herbert Wehner und Franz Josef Strauß ausgestorben. Einer, der unverhohlen damit droht, seinem Verhandlungspartner das „Rückgrat zu brechen“. Solch herzlicher Umgangston, den man allenfalls noch in amerikanischen Gewerkschaftskreisen vermuten würde, wird seit einigen Tagen Bundesaußenminister Kinkel nachgesagt. Das Auswärtige Amt dementierte umgehend. Der Herr, so hieß es zum Stil des Hauses, neige zu klarer, meist schwäbischer Wortwahl, die gedolmetscht möglicherweise anders ankomme, als sie gemeint war. Anders angekommen ist sie auf jeden Fall am Quai d'Orsay. Frankreichs Botschafter in Bonn, François Scheer, lamentierte – vermutlich im Einverständnis mit Außenminister Alain Juppe – vor deutscher Presse über den deutschen Umgangsstil mit seinem Verbündeten und verlangte Klarheit über die Westbindung der deutschen Seite. Daß Kinkel daraufhin Scheer „einbestellt“, kann als weiterer Beleg seines diplomatischen Feingefühls gelten. Und daß hernach Juppe und Kinkel übereinkamen, die beiderseitige Beziehung sei gut und Scheers Äußerung entbehre jeglicher Grundlage, kann als sicheres Indiz fürs Gegenteil genommen werden.

Kinkel zeigt Nerven. Seit längerem wird über Profil und Perspektive der Liberalen lamentiert, spätestens mit ihrem Niedergang bei der Niedersachsen-Wahl sind es existentielle Fragen geworden. Da bietet sich dem Parteichef die Europapolitik als ein Feld an, auf dem er (endlich) eigenständiges Profil zeigen kann. Und so läuft er seit Wochen Kohl den Rang des Europapolitikers im Regierungslager ab. Getrost hätte er auch die Erweiterung der EU als seinen Erfolg verbuchen können – hätten die Franzosen ihm nun nicht die Bilanz vermiest. Dabei konnte er sich doch zu Recht als Sachwalter der europäischen Idee gegen die Nationalinteressen verstehen. Sein Fehler war, nicht berücksichtigt zu haben, daß diese europäische Idee sich noch am ehesten mit deutschen Interessen deckt.

Jedes von Kinkels Worten in Richtung Erweiterung birgt folglich den Ruch des nationalen Eigeninteresses. Es reicht eben nicht, allein die Idee einer europäischen Union hochzuhalten, ohne zugleich eine Kontrolle dieser geballten Macht zu thematisieren. Sollte sein Lamento nicht lediglich dem schwindenden französischen Einfluß gegolten haben, so war es genau das, was der französische Botschafter Scheer in der Konsequenz eingefordert hat, als er seine Vorbehalte gegen die deutsche Seite formulierte. Diese Kontrolle wurde bislang vorrangig und mehr schlecht als recht durch Lobbyisten-Bündnisse bewerkstelligt. Sie soll nun verstärkt durch Sperrminoritäten im Ministerrat gewährleistet werden, quasi-nationalstaatliche Korrektive einer supranationalen Organisation. Die Kontrolle sollte jedoch eigentlich durch eine starke europäische Legislative ausgeübt werden, die sich weniger entlang der nationalen denn der sozialen Topographie organisiert. In deren Rahmen würden auch Kinkels schwäbische Kraftsprüche weniger ins Gewicht fallen. Dieter Rulff