■ Und wieder wurde eine Zumutbarkeitsdebatte vergeigt
: Im Verdrängen ein einig Volk

Je eher daran, je eher davon, dachte sich Rudolf Scharping und irrte. Die Diskussion in- und außerhalb der SPD bescherte uns keine Klarheit über die Steuerpläne der Partei, die ab Oktober regieren will, dafür aber eine eindrucksvolle Momentaufnahme. Die Gewerkschaften, die hier nichts unmittelbar zu verantworten haben, hauten kräftig auf den Tisch. Die Arbeitgeberfraktion zog indigniert die Augenbrauen hoch. Die Bild-Zeitung zettelte eine Kampagne an. Die SPD, ins Mark getroffen, weil irgendwo zwischen 50.000 und 60.000 Mark die magische Gerechtigkeitsgrenze verläuft?

Wie in einer ordentlichen Familie, die keinen Krach nach draußen dringen läßt, hat sie sich nun darauf geeinigt, daß alles nur ein Mißverständnis war. Das stimmt und ist gleichzeitig dreist geschwindelt. Sicher gibt es einen Unterschied zwischen dem steuerpflichtigen und dem Bruttoeinkommen – wenn das Führungspersonal von Gewerkschaften und SPD vier Tage braucht, um ihn aufzuhellen, ist das die eher spaßhafte Seite der Angelegenheit. Die Aufregung erklärt das natürlich nicht. Der kollektive Aufschrei über die Ergänzungsabgabe weist auf beachtliche gemeinschaftliche Verdrängungsleistungen hin.

Die Deutschen, will es scheinen, hatten schlicht vergessen, daß die nächste große Rate in jedem Fall fällig ist. Seit über einem Jahr steht fest, daß ab 1995 der Solidarzuschlag für die deutsche Einheit wieder fällig ist. Der diskrete Umgang der Politiker mit der bevorstehenden Steuererhöhung verstärkt hier nur die allzu menschliche Neigung, an unangenehme Tatsachen möglichst wenig zu denken. Doch auch der Umgang mit anderen unerfreulichen Wahrheiten stand im Streit um die Ergänzungsabgabe auf dem Prüfstand. Die schwindelerregende Staatsverschuldung zwingt zu strenger Finanzdisziplin – und auf der Suche nach einer vermeintlichen Gerechtigkeitsgrenze wirft die SPD das mit grandioser Geste über Bord. Ob die Umschichtungen bezahlbar sind, das wird unversehens wieder zur drittrangigen Frage, wenn SPD und Gewerkschaften die alten Verteilungsleidenschaften pflegen.

Bedenklich ist das nicht nur wegen der Staatsfinanzen, sondern eben wegen des neu entstandenen sozialen Gefälles. Wer zu den Besser-, wer zu den Normal-, wer zu den Schlechterverdienenden gehört, diese Debatte provoziert nur allergische Abwehrreaktionen. Die Frage lautet: Wer hat Entlastung wirklich nötig? Es darf daran erinnert werden, daß der Solidarzuschag des Jahres 91 nicht die Hälfte der Bevölkerung an den Bettelstab gebracht hat. Tissy Bruns