Der Fenstersturz von Wladiwostok

■ Rußlands WählerInnen blieben bei den Kommunalwahlen zu Hause

Moskau (taz) – Daß das Volk wie eine Sturmflut über die Wahllokale hereinbrechen würde, hatte niemand geglaubt. Aber selbst die realistischsten Kommentatoren blicken konsterniert drein, angesichts der politischen Passivität der RussInnen bei den Wahlen zu den lokalen Parlamenten, die am Wochenende in 17 Regionen des ausgedehnten Reiches über die Bühnen gingen. Kaum fanden sich die 25 Prozent WählerInnen, deren Teilnahme das Gesetz als Voraussetzung für die Gültigkeit der Wahlen nennt. Eine originelle Lösung für das Problem hatte der Petersburger Oberbürgermeister Sobtschak: Er proklamierte kurzerhand die Verlängerung des Wahltages um 24 Stunden.

Am Montag nahm die Stadt dann doch noch die Hürde. Mit einem Wermutstropfen: Die Staatsanwaltschaft versprach, das Wahlverfahren als ungesetzlich anzufechten. Offenbar glaubt in Rußland kaum jemand mehr, die Politiker könnten am Leben der kleinen Frau von der Straße etwas ändern. Am wenigsten die PetersburgerInnen. Zum einen mußten sie während des Wahlkampfes mitansehen, wie die Obrigkeit die Einmischung diverser Mafia-Clans in den Gang der Dinge duldete – da gab es Bombendrohungen und vor WahlhelferInnen-Nasen gehaltene Pistolen. Hinzu kam ein Informations-Tohuwabohu. Sobtschak hatte nämlich parallel zu den Wahlen ein Referendum angesetzt, mit dessen Hilfe er „Stadtfremden“ – weniger als fünf Jahre Gemeldeten – das passive Wahlrecht aberkennen lassen wollte. Buchstäblich in letzter Minute setzte Präsident Jelzin per Ukas diesen Volksentscheid ab, woraufhin viele Städter in dem Glauben zu Bett gingen, damit seien auch die Wahlen gestorben. Gesiegt hat bei diesen Wahlen das Dorf über die Stadt. In ländlichen Gebieten war die Abstimmungsrate weit höher als in den Metropolen. Den Rekord hält der aginisch- burjatische Autonome Bezirk an der mongolischen Grenze mit 60 Prozent. Die dort siedelnden Nationen wählen traditionell fleißig. Mehr schlecht als recht ging die Wahlprozedur in Omsk, Smolensk und Tver über die Runden, in drei Regionen wurde die 25-Prozent- Hürde nicht genommen. Ein Fall für sich ist die „Meeres“-Region um Wladiwostok. Der dortige Gouverneur, Jewgeni Nasdratenko, hat die Wahlen als „momentan zu teuer“ auf den Herbst verschieben lassen. In Wladiwostok ist die Lage instabil, nachdem Nasdratenko letzte Woche seinen Rivalen, den Oberbürgermeister, in einem bewaffneten Handstreich aus dem Amt entfernte und dessen Stellvertreter aus dem Fenster stürzen ließ.

Triumphiert haben unter diesen Umständen die Verwaltungs- Funktionäre, Kolchos-Vorsitzende und Industriebosse. Nur ein grüner Streifen leuchtet am Horizont. Die Landgemeinden um Kirow im Vor-Ural-Gebiet wählten außer elf Administratoren und 13 Produktions-Managern noch neun ökologisch bewegte ÄrztInnen in ihre gesetzliche Vertretung. Barbara Kerneck