Neue Zeiten, enorme Probleme und der Weizen der Reaktion

■ Heute vor 75 Jahren, am 24. März 1919, trat die erste demokratisch gewählte Bürgerschaft zusammen

Der Zufall wollte es so. Zum ersten Mal bei einer Bürgerschaftswahl waren Frauen wahlberechtigt, und zum ersten Mal eröffnete eine Frau ein deutsches Parlament: die Alterspräsidentin Helene Lange, Frauenrechtlerin und Abgeordnete der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 17 Frauen unter den 160 Mitgliedern der Hamburgischen Bürgerschaft und eine Frau auf dem Präsidentenstuhl – der Wandel der politischen Verhältnisse im Lande war augenfällig.

Er war auch fällig. Die Wahl am 16. März 1919 war erstmals allgemein: Alle Erwachsenen, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, waren wahlberechtigt, auch die Frauen. Und die Wahl war erstmals gleich: Jede Stimme zählte gleich viel. Zuvor war in der Hansestadt ebenso „altmodisch“ gewählt worden wie im benachbarten rückständigen Preußen: in drei Klassen, ausschließlich von Männern natürlich, die jeweils ein bestimmtes Mindesteinkommen versteuerten.

Der gewünschte Effekt: Die konservative Mehrheit war verläßlich und die wohlhabende Oberschicht unter sich. Der Senat bestand aus 18 auf Lebenszeit gewählten Honoratioren, ausschließlich Repräsentanten der lutherischen Oberschicht. Katholiken, Juden und Vertreter anderer religiöser Minderheiten durften ihm nicht angehören.

So kam es denn, daß die Sozialdemokraten 1890 zwar alle drei Hamburger Reichstagsmanda te eroberten; der Berliner Reichstag wurde schon damals nach dem Prinzip „Ein Bürger – eine Stimme“ gewählt. Ins Parlament der heftig expandierenden Hafen- und Industriestadt jedoch zog erst elf Jahre später Otto Stolten als erster Sozialdemokrat ein.

Hamburgs Bevölkerung war schon 1890 auf über eine halbe Million angewachsen und hatte sich bis zum Ersten Weltkrieg noch einmal fast verdoppelt. Regiert und verwaltet aber wurde die Hansestadt immer noch wie eine mittelalterliche Reichsstadt. Im Gegensatz zu Preußen gab es hier keine professionelle Verwaltung, die Lösung sozialer Probleme überließen die Honoratioren gerne privater Initiative: Stiftungen, Vereinen, engagierten Bürgern.

Dies verstaubt-verträumte Politsystem nun wurde durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen kräftig durchgelüftet: Nach der Meuterei der Matrosen und der Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates waren Senat und Bürgerschaft schon am 12. November 1918 abgesetzt worden. Aber schon wenige Tage später wurden sie durch den Rat als kommunale Verwaltungsinstanzen, ohne politische Kompetenzen, wieder eingesetzt. Auch die Revolution will verwaltet sein.

Die Bürgerschaftswahl am 16. März 1919 brachte der SPD 50,5 Prozent der Stimmen. Die DDP kam auf 20,5, die USPD auf 8,1 Prozent. Die rechten Parteien Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutschnationalen (DNVP) gingen mit 8,6 und 2,9 Prozent der Stimmen durchs Ziel. Obwohl die Sozialdemokraten mit ihrer absoluten Mehrheit den Senat allein hätten stellen können, bildeten sie eine Koalition mit der demokratischen DDP. Das Bürgertum völlig von der Regierung auszuschließen, so gab man zu bedenken, würde nur „den Weizen der Reaktion üppigst in die Halme schießen“ lassen.

Bürgerschaft und Senat standen vor enormen Schwierigkeiten. Nicht nur mußte eine neue Verfassung auf demokratischer Grundlage geschaffen werden – nach langen Ausschußberatungen trat sie am 9. Januar 1921 in Kraft –, auch die aktuellen Probleme waren gewaltig. Die Lebensmittelversorgung war unsicher, da die Seeblockade der Kriegsgegner andauerte. Es fehlte an Energie, um zu kochen, Wohnungen zu heizen, Straßen zu beleuchten, Straßenbahnen fahren zu lassen und die Maschinen in den Fabriken in Gang zu halten. Die heimkehrenden Soldaten vergrößerten das Heer der Arbeitslosen. Neue Zeiten. Johann Peter Nissen