■ Gesellschaftliche Krise und Ökonomie der Zeit: Zum Zusammenhang von Arbeit, Geld und Weltwirtschaft
: Abschied vom Arbeitswahn

Mit der Auseinandersetzung um das Marktsystem verhält es sich wie mit dem berühmten „Schweinezyklus“ in der Volkswirtschaftslehre: spätestens seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus agierten die Theorie- und Konzeptproduzenten blind „prozyklisch“; und so liegt jetzt ein unbrauchbares Überangebot von Schwüren auf die Marktwirtschaft vor, während angesichts zunehmender sozialökonomischer Krisenerscheinungen Kritik dringend gebraucht wird. Im Zentrum der Debatte steht dabei, wie schon einmal Anfang der 80er, die Frage der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation und der Zeitökonomie.

Denn nach der Unterbrechung der arbeitsgesellschaftlichen Krise durch den kurzen Sommer des spekulativen Kasino-Kapitalismus (Reaganomics und Thatcherismus) und nach dem unseriösen, unproduktiv durch die Explosion der Staatsschuld vorfinanzierten deutschen Vereinigungsboom hat nun die globale Krisenrealität auch die siegesstolze BRD wiedereingeholt. Mit offiziell vier Millionen Arbeitslosen und weiteren Millionen, die auf der Abschußliste der Rationalisierung stehen oder in Übergangsmaßnahmen (ABM, Umschulung, Vorruhestand etc.) „geparkt“ wurden, schickt sich das vereinte Deutschland an, zumindest numerisch das Katastrophenniveau der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er anzupeilen.

Die offizielle Gesellschaftspolitik quer durch das Parteien- und Verbändespektrum ist weder willens noch fähig, auf die nicht mehr zu leugnende Krise anders als durch ein blindes Weiterfahren der herrschenden Arbeitslogik zu reagieren: Millionen neuer „Arbeitsplätze“ sollen irgendwie geschaffen werden, obwohl keinerlei realistisches Konzept dafür zu erkennen ist. Der quasireligiöse Glaube an den „Aufschwung“ und hohler Zweckoptimismus ersetzen die Analyse; gleichzeitig wird kaum mehr nach dem Sinn, dem Inhalt und nach den ökologischen Folgen des Arbeitswahns gefragt. Man tut so, als könne die neue soziale Frage nur durch eine weitere Expansion der betriebswirtschaftlichen Vernutzung von Mensch und Natur gelöst werden.

Demgegenüber versucht die minoritäre Debatte um eine alternative Arbeits- und Zeitökonomie (von André Gorz bis Ingrid Kurz- Scherf) die herrschende Arbeitslogik in Frage zu stellen. Es zeigt sich jedoch, daß die einschlägigen Konzepte der achtziger Jahre viel zu kurz griffen und eher Irrläufer oder Luxusprodukte der alten sozialstaatlichen Umverteilungsrationalität darstellten, die noch nicht aus einer existentiellen Krise heraus formuliert wurden. Was dabei systematisch verfehlt wird, ist der innere Zusammenhang von Arbeit, Geld und Weltmarkt. Immer wieder werden die hohe technisch-wissenschaftliche Produktivität und die damit gewachsene Fähigkeit zur Produktion von gesellschaftlichem Reichtum als Argument dafür ins Feld geführt, daß „weniger Arbeit für alle“ möglich sei. Das ist ein unvermitteltes Springen auf die „naturale“, stofflich-technische Ebene.

Sicherlich könnten heute mit wenig Arbeitsaufwand ungeheure Mengen von lebensnotwendigen und sinnvollen Produkten hergestellt und alle Menschen dieser Welt leicht versorgt werden. Aber die gesellschaftliche Vermittlungsform des kapitalisierten Geldes sorgt dafür, daß Produkte nicht nach Maßgabe der technischen Möglichkeit und der Bedürfnisse, sondern einzig nach Maßgabe der Kaufkraft hergestellt werden. Und letztere wiederum hängt von der Verkaufsfähigkeit der Arbeitskraft ab und diese vom Standard der Rentabilität. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz.

In Wirklichkeit klafft ein krisenhafter Widerspruch zwischen der Logik des Geldes (Rentabilität) und dem technisch-wissenschaftlichen Potential. Der führt dazu, daß gerade die Steigerung der Produktivität über ein gewisses Maß hinaus eine wachsende Menschenmasse von ihrer Lebensreproduktion über die Geldform „systemgesetzlich“ und „strukturell“ abschneidet.

Dieser Widerspruch kann durch keinerlei Umverteilungskonzept (von Arbeit und/oder Geld) mehr erreicht werden, sondern nur noch durch eine viel tiefer gehende Änderung der Systemkriterien. Damit blamieren sich leider auch die weiteren Konkretisierungsversuche der alternativen Arbeitsdebatte. Systemimmanent kann Arbeitszeitverkürzung gar nicht zu einer Verteilung der Arbeit auf alle führen, sondern nur zu weiterer Rationalisierung (auch die bekannte Vereinbarung bei VW ist nur eine Galgenfrist). Denn die Vorstellung, daß ein gesamtgesellschaftlicher „Arbeitsfonds“ zur Verfügung stünde und durch geeignete politische Maßnahmen nach den Kriterien des gesunden Menschenverstands verteilt werden könnte, ist ökonomisch naiv. Die reale Vermittlung der gesellschaftlichen Arbeit ist allein das betriebswirtschaftlich beschränkte Rentabilitätskriterium, und diesem zufolge ist es völlig logisch, daß immer weniger Leute immer mehr und intensiver arbeiten. Exekutiert wird diese wenig erfreuliche Logik nicht durch unternehmerische Willkür, sondern durch den Kostendruck des Weltmarkts.

Dieselbe ökonomische Naivität zeigt sich in der Frage der Geldeinkommen bei verminderter Arbeitszeit. Das nicht mehr in Frage gestellte System der Kapitalverwertung „schöpft“ Geld nämlich allein durch betriebswirtschaftlich angewendete Arbeit; aber eben nicht Arbeit schlechthin, sondern nur auf der Höhe des (inzwischen globalisierten) Produktivitäts- und Rentabilitätsstandards. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich wie in den achtziger Jahren war daher keine Frage des richtigen politischen Konzepts, sondern allein der Gewinnerposition auf dem Weltmarkt geschuldet, das heißt, sie wurde in Wahrheit mit dem Fleisch der globalen Verlierer bezahlt.

Die Debatte um ein Grund- oder Sozialeinkommen andererseits verschiebt dasselbe Problem nur auf die staatliche Ebene. Wenn der Staat die Arbeitszeitverkürzung oder die arbeitsfreie Grundsicherung bezahlen soll, dann wird er das Geld dafür kaum im Kartoffeldruckverfahren herstellen können. Er kann es letztlich nur aus dem „produktiv“ in der Kapitalverwertung erzeugten Geld abschöpfen. Wenn aber immer weniger Arbeitsmengen auf dem erforderlichen Produktivitätsniveau kapitalisiert werden können, dann gibt es auch weniger abschöpfbares Geld, und wieder beißt sich die Katze in den Schwanz.

Der Systemwiderspruch konnte für ein Land wie die BRD nur durch dessen starke Weltmarktposition überdeckt werden; jetzt aber beginnt dieser infernalische Vorteil wegzufallen, und die negative Stunde der Wahrheit löst auch die Hoffnung des garantierten Grundeinkommens oberhalb eines Hungerniveaus in Rauch auf. Dasselbe gilt leider ebenso für die Umschichtung von Arbeit und (Geld-)Einkommen in sozialökologisch sinnvolle nichtindustrielle Tätigkeiten. Es ist kein Zufall, daß die meisten dieser Tätigkeiten allein über staatliche Subventionierung finanzierbar sind, weil sie entweder nur in verschwindendem Umfang betriebswirtschaftlich rentabel betrieben werden könnten oder der Konsum ihrer Resultate gar nicht privater Marktnachfrage zurechenbar wäre (beispielsweise Wasser, Luft, Klima etc.).

In demselben Maße, wie die industrielle Arbeit bzw. deren Weltmarktposition in die Krise stürzt, wird daher nicht etwa die Arbeit in solche Bereiche umgeschichtet, sondern diese brechen zusammen mit der staatlichen Finanzierungs- und Umverteilungsfähigkeit selbst weg. Wie man es auch dreht und wendet: wir haben es ganz unerwartet mit einer Systemkrise nunmehr auch der westlichen Marktwirtschaft zu tun, in der die alternativen und gewerkschaftlichen, sozialstaatlichen und Keynesianischen Konzepte der Vergangenheit nicht mehr zu verlängern sind. Der gewohnte und historisch gewachsene Zusammenhang von Arbeit, Geld und Lebensreproduktion zerreißt vor unseren Augen. Diese Krise ist jenseits des alten Gegensatzes zu den vorsintflutlichen Staatsplanwirtschaften angesiedelt. Jetzt geht es um eine ganz andere Systemveränderung.

Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich wird die Krise der Arbeitsgesellschaft bestenfalls vorübergehend bremsen; aber sie könnte gleichzeitig der Einstieg in einen neuartigen Ausstieg sein: nämlich in die schrittweise Entkoppelung verschiedener Lebensbereiche von der Logik des Geldes. Die gewonnene „disponible Zeit“, die mangels Masse nicht mehr vom Geld zu regieren ist, könnte durch andere Arten der Reproduktion (Dienstleistungen wie materielle Güterherstellung) außerhalb der Warenökonomie und damit jenseits des kapitalistischen Arbeitsbegriffs mit seinem abstrakten Rentabilitätsfetisch gefüllt werden; nicht als Rückkehr in die vormoderne agrarische Mangelgesellschaft, sondern mit Informations- beziehungsweise Produktionstechnologie und in Formen unbürokratischer Selbstverwaltung.

Zwar sträubt sich die kapitalistische Psyche dagegen, etwas Sinnvolles ohne Dazwischenkunft des Geldes zu machen; aber welchen Ausweg sollte es sonst geben? Voraussetzung dafür wäre, daß von der heute noch flächendeckenden Logik des Geldes diejenigen Ressourcen freigegeben (statt stillgelegt) werden, die sie beim besten Willen nicht mehr verwalten kann; und hier liegt die gesellschaftspolitische Aufgabe der Zukunft. Robert Kurz

Freier Publizist, Nürnberg. Unter anderem Autor von „Der Kollaps der Modernisierung“ und „Der letzte macht das Licht aus“.